NOTIERT IN TOKIO

"Getrennte Länder, gemeinsamer Himmel"

Das Coronavirus beschäftigt Japan derzeit wohl wie keine andere Nation als China. Schließlich ist man der größte Nachbar des Krankheitsherdes, von dort kommt fast ein Drittel der ausländischen Japanbesucher, viele japanische Unternehmen produzieren...

"Getrennte Länder, gemeinsamer Himmel"

Das Coronavirus beschäftigt Japan derzeit wohl wie keine andere Nation als China. Schließlich ist man der größte Nachbar des Krankheitsherdes, von dort kommt fast ein Drittel der ausländischen Japanbesucher, viele japanische Unternehmen produzieren und verkaufen im Reich der Mitte. Daher ist für Japan die Gefahr am größten, dass sich die neue Seuche dort ebenfalls ausbreitet. Dadurch wäre auch der ganze Stolz der Nation, die Austragung der Olympischen Sommerspiele, gefährdet. Trotzdem reagierte die Regierung in Tokio besonnen. Während Australien und die USA keine Festlandchinesen mehr ins Land lassen, hat Japan nur die Einreise von Chinesen gestoppt, die sich kürzlich in der Krankheitsprovinz Hubei aufgehalten haben oder deren Reisepass dort ausgestellt wurde. Die Regierung und viele Unternehmen spendeten Masken, Augenbrillen und Schutzanzüge und schickten sie nach China. Und anders als in Südkorea gab es nur wenige rassistische Äußerungen gegen chinesische Besucher. Auf Twitter verbreiteten japanische Nutzer stattdessen ermutigende Botschaften wie “Bleib stark, China” und “Vorwärts, Wuhan”. Japanische Medien bedauerten die Stornierung der Japanreisen von 400 000 chinesischen Touristen, nachdem die chinesischen Behörden Gruppenreisen ins Ausland verboten hatten.Die japanische Solidarität habe sie “tief berührt”, sagte die Sprecherin des Außenministeriums in Peking, Hua Chunying, und lobte Japans Regierung und Öffentlichkeit für “Sympathie, Verständnis und Unterstützung” sowie die “ewig dauernde Freundschaft” mit China. Ihre über den Messengerdienst Weibo verbreiteten Kommentare fanden in China ein breites Echo. Zu den am meisten geteilten Posts gehörte das Foto von einem Karton voller Gesichtsmasken, den ein japanisches Testzentrum für chinesische Sprachkenntnisse in die isolierte Millionenmetropole Wuhan geschickt hatte. Auf dem postalischen Aufkleber hatten die japanischen Spender in chinesischen Schriftzeichen den Spruch “Getrennte Länder, gemeinsamer Himmel” geschrieben. Das poetische Zitat stammt aus einem historischen japanischen Bericht über die Reisen des chinesischen Mönchs Jianzhen, der Mitte des 8. Jahrhunderts den Buddhismus nach Japan gebracht hatte. Den Spruch hat vermutlich ein japanischer Fürst auf eine Robe für Jianzhen nähen lassen, um seine Verbundenheit mit China auszudrücken. Anscheinend haben die Japaner ein besseres Verständnis von antiken Gedichten als wir, schrieb ein Chinese anerkennend auf Weibo.All diese Äußerungen sind keine Selbstverständlichkeiten. Die Beziehung von China und Japan ist kompliziert und belastet, weil beide Länder über anderthalb Jahrtausende historisch und kulturell eng verbunden sind. “Alles in Japan außer dem Baden in heißem Vulkanwasser hat seinen Ursprung in China”, schrieb der britische Japankenner Basil Hall Chamberlain mit einer Prise Spott 1890 und spielte damit unter anderem auf die japanische Übernahme von Buddhismus, Schriftzeichen, Kaiserkult und der Porzellanherstellung aus China an. Zu Chamberlains Zeit wandte sich Japan gerade vom als rückständig empfundenen Reich der Mitte ab und erkor den Westen als neues Vorbild aus. In der Folge stieg Nippon als erste Nation in Asien in die Riege der Großmächte auf und eroberte ab 1937 erst den Norden und dann die Küsten von China. Die Erinnerung an das japanische Massaker an der Zivilbevölkerung von Nanking und andere Kriegsverbrechen hält Chinas Propaganda immer noch wach. Umgekehrt beäugt das heutige Japan misstrauisch die Weltmachtambitionen von Staatspräsident Xi Jinping. Die Elite befürchtet nichts mehr, als in den chinesischen Herrschaftsbereich zu geraten.Dass nun das Coronavirus diese tiefsitzenden Ressentiments in den Hintergrund drängt, ist bemerkenswert und ein gutes Omen für die Fortentwicklung der Beziehungen. Nach langer Eiszeit sollte Xi zur Kirschblüte im März oder April nämlich als erster Staatspräsident seit zwölf Jahren Japan besuchen. Wahrscheinlich wird der Termin wegen der Krankheitsfolgen verschoben, aber die positive Stimmung zwischen Peking und Tokio dürfte dies sicher nicht trüben.