NOTIERT IN LONDON

Heinrich, das Leckermaul

Fernsehserien haben nicht nur in Fernost große Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten. In Japan sorgte das süßliche Melodram "Wintersonate" (Fuyu no Sonata) vor gut einem Jahrzehnt für einen Südkorea-Boom. In Großbritannien interessiert man sich...

Heinrich, das Leckermaul

Fernsehserien haben nicht nur in Fernost große Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten. In Japan sorgte das süßliche Melodram “Wintersonate” (Fuyu no Sonata) vor gut einem Jahrzehnt für einen Südkorea-Boom. In Großbritannien interessiert man sich mehr und mehr für die Tudors. “Wolf Hall” heißt eine neue BBC-Serie, die in opulenten Bildern zeigt, wie Thomas Cromwell, der Sohn eines Schmieds, vom Söldner zu einem der engsten Berater von Heinrich VIII. aufstieg. Die Verfilmung der Romane von Hilary Mantel hat einem kleinen Teehaus im Londoner Stadtteil Kew enormen Auftrieb verschafft. Dort werden – gleich neben dem botanischen Garten – die “Original Maids of Honour” gebacken, kleine Kuchen, wie sie einst schon Anne Boleyn frisch aus dem Ofen auf einem Silbertablett serviert bekommen haben soll. Sie erinnern ein wenig an das auf der Iberischen Halbinsel so beliebte Eiercreme-Gebäck, schmecken aber anders.Heinrich VIII., der in der Serie von Damian Lewis verkörpert wird, soll so begeistert davon gewesen sein, wie sie auf der Zunge zergehen, dass er das Rezept beschlagnahmen und in einer eisernen Kassette im Palast von Richmond aufbewahren ließ. Zu seiner Zeit waren die Zutaten erlesene Spezialitäten. Zucker und Gewürze wurden aus der Neuen Welt eingeführt, ihre Verwendung war ein Ausdruck von Wohlstand. Einer Erzählung zufolge wurde die Magd, die das Rezept erfunden haben soll, von Heinrich VIII. im Palast gefangen gehalten, so dass sie nur noch für ihn und die königliche Familie backen konnte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab ein Palastkoch das Rezept an die Bäckerei von John Billet in Richmond weiter. Robert Newens, dessen Familie das Teehaus in Kew bis vor wenigen Jahren betrieb, machte dort seine Ausbildung und eröffnete 1850 sein eigenes Geschäft. Das Rezept wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Heute wird allerdings nicht mehr im Holzkohleofen, sondern mit Gas gebacken. Der britische Starkoch Jamie Oliver habe versucht, die Rezeptur zu verbessern, ohne Erfolg, sagte der heutige Besitzer, Dean Martin, dem “Evening Standard”. Die Bäckerei war bislang ein Geheimtipp, die Kundschaft kam vor allem aus der näheren Umgebung. Aber auch Winston Churchill soll dort verkehrt haben. Neuerdings ist sie auch in der Welt der Glitterati angesagt. Brad Pitt und Angelina Jolie sollen auch schon da gewesen sein. Das elegante viktorianische Anwesen, in dem sich die Bäckerei ursprünglich befand, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Teehaus und Bäckerei befinden sich heute in einem Gebäude aus den 1940er-Jahren, das mit viel Liebe und reichlich Kitsch dekoriert wurde. Das Rezept hält Martin natürlich auch weiterhin geheim. Aber man muss nicht den weiten Weg nach Kew auf sich nehmen, um die “Original Maids of Honour” zu kosten. Martin verschickt sie auch – vor allem seitdem sich die Anfragen der Fernsehzuschauer häufen, ist das ein ziemlich gutes Geschäft. Im Herbst eröffnete Martin eine Filiale in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur.Andere typisch britische Nahrungsmittel erfreuten sich zuletzt nicht so großer Beliebtheit. Der Appetit auf die braune Soße, die zu jedem ordentlichen englischen Frühstück gehört, hat deutlich nachgelassen. Dem Marktforscher Mintel zufolge ist der Absatz um ein Fünftel eingebrochen. Erfunden wurde sie 1895 von Frederick Gibson Garton, einem Lebensmittelhändler aus Nottingham. Er nannte sie HP Sauce, nachdem er gehört hatte, dass sie auch in den Houses of Parliament verkauft wurde. Tomaten, Datteln, Malzessig und der Extrakt der exotischen Tamarinde gehören zu den Zutaten, aus denen sich die einst in jedem britischen Haushalt unverzichtbare Soße zusammensetzt. Aber die Essgewohnheiten ändern sich. Die jahrelangen Kampagnen für eine gesündere Ernährung scheinen sich bemerkbar zu machen. Nicht jeder schaufelt heute noch frühmorgens jede Menge Rührei, Würstchen, gebratene Champignons, Hash Browns und Grilltomaten in sich hinein. Der Ketchup-Hersteller Heinz, dem auch HP Sauce und Daddies gehören, kann den Rückgang allerdings nicht bestätigen. Die Mintel-Aussagen widersprächen eigenen Daten und unabhängigen Analysen, zitiert der “Independent” das US-Unternehmen. Zeit für eine Fernsehserie?