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Hoffnungsträger mit oligarchischer Achillesferse

Von Eduard Steiner, Moskau Börsen-Zeitung, 23.7.2019 Ob Wolodymyr Selenskyj zwischendurch schwindlig wurde, ist nicht bekannt. Möglich wäre es schon Ende März gewesen, als er sich als vormaliger Kabarettist in die Stichwahl um das ukrainische...

Hoffnungsträger mit oligarchischer Achillesferse

Von Eduard Steiner, MoskauOb Wolodymyr Selenskyj zwischendurch schwindlig wurde, ist nicht bekannt. Möglich wäre es schon Ende März gewesen, als er sich als vormaliger Kabarettist in die Stichwahl um das ukrainische Präsidentenamt katapultierte. Umso mehr im April, als er die Stichwahl gegen den bis dahin amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko deutlich für sich entschied. Ganz sicher aber seit vergangenem Sonntag, da seine erst vor kurzem gegründete Partei “Diener des Volkes” letztem Auszählungsstand zufolge die absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen errungen hat. Damit wird der 41-Jährige wahrscheinlich der erste Präsident der Ukraine, der seit dem Ende des Kommunismus mit absoluter Mehrheit regieren kann.Vorerst scheint ihm das nicht zu Kopf gestiegen zu sein. Dabei sind die Erwartungen an ihn extrem hoch. Nichts weniger als einen radikalen Durchbruch bei der Korruptionsbekämpfung, die er groß versprochen hat, soll er erbringen – eine Aufgabe, an der bisher alle gescheitert sind. Dazu weitere Reformen, um den Grundstein für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu legen. Und dann soll er noch bei all seiner Westorientierung eine Lösung mit Moskau im Konflikt um die Ostukraine finden.Immerhin zeigte er keine Scheu bei der Kontaktaufnahme. Schlug bei der Nato und der EU in Brüssel auf, stellte sich in Berlin und Paris vor, telefonierte mit Wladimir Putin, um ein Treffen vorzuschlagen, und traf sich im Inland mit den Unternehmern.Sich an neue Situationen anzupassen fällt dem verheirateten Vater zweier Kinder sichtlich nicht schwer. Geboren in der südöstlichen Industriestadt Krywyj Rih, zog er mit seinen russischsprachigen jüdischen Eltern in die Mongolei, wohin sein Vater, ein Professor für Kybernetik, für vier Jahre beordert wurde. Obwohl auch seine Mutter, eine Ingenieurin, aus der Technikbranche kam, studierte Wolodymyr Selenskyj Rechtswissenschaften in Kiew, ohne jemals in diesem Sektor zu arbeiten. Stattdessen ging er schon Ende der 1990er Jahre in die Schauspielerei. Mit seiner Kabarettgruppe lebte er für einige Jahre in Moskau.In der Ukraine selbst wurde man 2006 aufmerksam, als er in einer TV-Dance-Castingshow mitmachte. Vor allem aber 2015, als er in seiner satirischen Fernsehserie “Diener des Volkes” (der Name seiner späteren Partei) einen Geschichtslehrer zum korruptionsbekämpfenden Staatspräsidenten aufsteigen lässt.Als Newcomer wehen Selenskyj Vorschusslorbeeren entgegen. Die Hauptskepsis konnte er freilich noch nicht zerstreuen – seine Nähe zu Ihor Kolomojskyj. Diesem gehört der TV-Sender 1+1 mehrheitlich, in dem Selenskyj mit seiner Fernsehserie reüssierte. Auch ist Kolomojskyj Selenskyjs Förderer, finanzierte sogar seine Leibwächter. Dabei ist Kolomojskyj der wohl am übelsten beleumundete Oligarch der Ukraine. Lange reichster Ukrainer, lebte er die vergangenen paar Jahre in der Schweiz und in Israel. Zuvor musste seine Privatbank unter dubiosen Umständen vom Staat aufgefangen werden. Kolomojskyj betrachtete den Staat immer als sein Eigentum. Charakteristisch ist etwa seine Aussage, dass nur Feiglinge einen Kredit zurückzahlen. Sollte Kolomojskyj in die Ukraine zurückkehren, wäre es für Selenskyj doppelt schwer zu beweisen, was er behauptet: Absolut unabhängig zu sein.