NOTIERT IN TOKIO

Im Land der leerstehenden Häuser

Der Internationale Währungsfonds (IWF) lobte Japan gerade für sein starkes Pro-Kopf-Wachstum. Den Kontext erklärte der IWF nicht: Bei gleicher oder wachsender Wirtschaftsleistung geht die Zahl der Japaner seit zehn Jahren kontinuierlich zurück,...

Im Land der leerstehenden Häuser

Der Internationale Währungsfonds (IWF) lobte Japan gerade für sein starkes Pro-Kopf-Wachstum. Den Kontext erklärte der IWF nicht: Bei gleicher oder wachsender Wirtschaftsleistung geht die Zahl der Japaner seit zehn Jahren kontinuierlich zurück, allein 2018 um 433 000. Dadurch wächst, bezogen auf den Einzelnen, der erzielte Wohlstand. Diese Entwicklung ergibt sich aus der Veränderung der Bevölkerungspyramide – früher gab es viele junge und wenig alte Japaner, heute ist es umgekehrt. In der Folge kommt es zu mehr Todesfällen als Geburten.Beide Trends haben ihren Höhepunkt noch nicht erreicht: Laut den Prognosen soll der Anteil der über 65-Jährigen von derzeit 28,4 % – zum Vergleich: in Deutschland sind es 21 % – bis 2040 auf 35,3 % steigen. Mit den Geburten geht es ebenfalls weiter abwärts. Zwischen Januar und September kamen nur noch 674 000 Babys in Japan auf die Welt. Das waren 5,6 % weniger als in den ersten neun Monaten von 2018. In diesem Jahr dürften es insgesamt nicht mehr als 880 000 Neugeborene werden, so wenig wie zuletzt 1899. Der Grund: Die Frauen der zweiten Babyboomer-Generation, geboren zwischen 1971 und 1974, werden zu alt zum Kinderkriegen. Die Jahrgänge danach sind deutlich kleiner. Selbst wenn ihre Angehörigen mehr Kinder bekämen, ließe sich das Schrumpfen der Bevölkerung nicht stoppen.Aber wir wollen die historische Perspektive nicht vergessen. Am Anfang der Meiji-Zeit 1868 gab es nur 35 Millionen Japaner, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es schon 72 Millionen. Den Scheitelpunkt markierte 2011 mit knapp 128 Millionen Einwohnern. Bis 2040 soll ihre Zahl laut einer offiziellen Projektion um rund 13 % auf 111 Millionen sinken. 2065 wären es sogar nur noch 88 Millionen. Die Regierung verfolgt allerdings das Ziel, die Schwelle von 100 Millionen in diesem Jahrhundert nicht mehr zu unterschreiten. Dafür schuf man sogar ein eigenes Ministeramt, aber bisher ohne vorzeigbare Erfolge.Bei der Diskussion dieser demografischen Veränderungen werden oft auch die 8,5 Millionen leerstehenden und verfallenden Häuser genannt. Das entspricht fast 14 % aller Gebäude in Japan. Vor allem im ländlichen Raum erweckt der Anblick dieser Akiya, so der japanische Ausdruck, das deprimierende Gefühl von Untergang und Tod. Doch der Zusammenhang ist weniger deutlich als gedacht: Während die Zahl der Japaner von 2013 bis 2018 um über 800 000 sank, nahm die Zahl der leeren Häuser nur um 260 000 zu. Zudem entstanden 1,6 Millionen neue Häuser. Der Bevölkerungsschwund als alleinige Ursache für den Leerstand scheidet also aus.Der wahre Hintergrund ist komplexer. Verglichen mit Deutschland haben japanische Häuser aufgrund der harten Klimawechsel zwischen trockenkalten Wintern und feuchtheißen Sommern, des verbreiteten Einsatzes von Kunststoffmaterialien und der ständigen Verschärfung von Erdbebenvorschriften eine vergleichsweise geringe Lebensdauer. Steuertechnisch ist ein Privathaus deswegen nach 25 Jahren abgeschrieben, danach zählt für Bank und Fiskus nur noch der Wert des Grundstücks. Eine Verwendung des Hauses nach dem Tod des Eigentümers ist also schwierig. Zudem ist die Grundsteuer für Immobilienbesitzer viel niedriger, wenn das Grundstück bebaut ist, egal ob das Haus nun bewohnt ist oder nicht. Daher lassen viele Besitzer und Erben lieber das leere Haus stehen und verschandeln damit die Nachbarschaft, als mehr Steuern zu berappen und auch noch den Abriss zu bezahlen.Die Behörden können bisher jedoch nur schwer jemanden belangen, weil viele Besitzverhältnisse im Dunkeln bleiben. Derzeit werden 4,1 Mill. Hektar an Grund und Boden – das ist anderthalbmal so viel wie die Fläche von Sizilien – von niemandem beansprucht. Etwa, weil die Immobilie wenig wert ist und womöglich noch ein leeres Haus darauf steht. Ein Kaufinteressent hat also keinen Ansprechpartner. Nun will die Regierung diesem Treiben einen Riegel vorschieben. Nach dem Tod des Eigentümers und Nutzers soll das Grundstück künftig unter dem Namen eines Erben registriert werden, sonst droht eine Geldstrafe. So sollen diese Immobilien in den Wirtschaftskreislauf zurückkehren.