NOTIERT IN LA PAZ

Keine Spur von Frieden in La Paz

Andernorts könnte man sagen, es herrsche dicke Luft. Aber in 3 700 Metern Höhe verbietet sich diese Metapher, selbst in Zeiten, wo Barrikaden die Straßen sperren, wo Müll nicht fortgebracht und Essen nicht angeliefert wird. La Paz hat dieser Tage...

Keine Spur von Frieden in La Paz

Andernorts könnte man sagen, es herrsche dicke Luft. Aber in 3 700 Metern Höhe verbietet sich diese Metapher, selbst in Zeiten, wo Barrikaden die Straßen sperren, wo Müll nicht fortgebracht und Essen nicht angeliefert wird. La Paz hat dieser Tage vom Frieden nur den Namen. “La Grieta” wäre derzeit wohl die treffendere Ortsbezeichnung. “Der Graben” würde die geografische Lage der Siedlung in der Schlucht des Río Choqueyapu korrekt beschreiben und auch deren soziale Realität. Denn die Metropolis, von der aus Bolivien regiert wird (nominelle Hauptstadt ist das kleinere Sucre), wird von der akuten Spaltung zwischen den Gegnern des ins Asyl geflohenen Langzeit-Präsidenten Evo Morales und dessen verbliebenen Anhängern entzweit. Derlei Zwist wäre belastend für die meisten Metropolen, aber für die 800 000 Einwohner der Schlucht kann sie existenzbedrohend werden, denn dorthin führen nur wenige Wege. Und diese sind blockiert von den Aktivisten des MAS, des “movimiento al socialismo”. Der Bewegung des ersten indigenen Präsidenten Boliviens wirft die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) vor, die Wahl am 20. Oktober manipuliert zu haben. Die landesweiten Proteste dagegen wurden von Polizisten niedergeknüppelt, bis diese nach zwei Wochen genug hatten und in den Revieren blieben. Als nach der Polizei auch noch die Militärs meuterten, blieb Morales nur noch die Flucht nach Mexiko.Fast 14 Jahre war “el Evo” im Amt, länger als sämtliche Amtsvorgänger in dem immer noch ärmsten Staat Südamerikas. Zwölf Jahre lang war unter ihm die Wirtschaft gewachsen, um mehr als 4 % im Durchschnitt. Er hätte als Großer in die Landesgeschichte eingehen können, aber er wollte nicht von der Macht lassen.Während Morales nun vitales Interesse an Publicity hat, scheint das für seine Nachfolgerin nicht zu gelten. In den vergangenen Tagen mussten argentinische TV-Teams aus Bolivien flüchten, nachdem sie massiv bedroht wurden. Einer Korrespondentin sprühte ein Polizist vor laufenden Kameras gar eine Ladung Tränengas in die Augen.Die Übergangspräsidentin Jeanine Añez, eine 52-jährige Rechtsanwältin aus der heißen Tiefland-Stadt Trinidad, hatte Jahre zwischen harten Oppositionsbänken, Friseursalons und Fitnessstudios gependelt, bis eine Serie von Rücktritten der MAS-Repräsentanten die zweite Vizepräsidentin des Senats jäh zur ranghöchsten Offiziellen im Lande machte. Als solche ließ sie sich zur “presidenta constitucional” küren, wurde von ihrem Twitter-Account nun vermeldet. Allerdings von einem dezimierten Parlament, denn die MAS-Mehrheit blieb ausgesperrt. Dass Añez nicht nur eine riesige Bibel in den Regierungspalast mitbrachte, sondern auch einen rechts aller politischen Spektren rüpelnden Rebellenführer, kündigte einen jähen Kurswechsel an.Brasilien erkannte die neue Regierung flugs an, ebenso US-Präsident Donald Trump und die OAS. Aber Europa lässt sich Zeit, mit gutem Grund. Denn alle bisherigen Amtshandlungen säten eher Zwietracht, als dass sie Eintracht schufen. Per Dekret sicherte Añez den Streitkräften Straffreiheit zu für Einsätze “der inneren Ordnung und der öffentlichen Stabilität”. Nein, das sei kein Freibrief zum Töten, versicherte Añez, nachdem am Freitag nahe der Stadt Cochabamba scharf geschossen wurde. Neun Menschen starben, fast hundert wurden verletzt.Añez` Aufgabe ist eigentlich klar: Binnen 90 Tagen soll sie Neuwahlen abhalten lassen, was selbst in Friedenszeiten nicht einfach wäre, denn das Land braucht nach dem Betrug vom 20. Oktober eine neue Wahlbehörde und wohl auch ein aktualisiertes Wahlregister. Angeblich verhandelt die neue Regierung inzwischen mit MAS-Vertretern über einen neuen Urnengang. Aber gleichzeitig schafft sie Fakten: Añez kappte die diplomatischen Standleitungen nach Caracas und Kuba. Sie verließ die linke Wirtschaftsgemeinschaft ALBA und verwies mehr als 700 kubanische Ärzte des Landes.Der Druck wird nun täglich steigen im Talkessel des Río Choqueyapu. Das Benzin ist bereits ausgegangen, die Preise für Lebensmittel klettern und die Barrikaden bleiben stehen. Añez weiß: 2003 stürzte ein Präsident nach der Blockade von La Paz, ausgeführt vom “movimiento al socialismo” des Evo Morales.