NOTIERT IN MOSKAU

Liebt uns!

Man würde ja nicht annehmen, dass die Menschen im kalten Russland ein ähnliches Lebensgefühl haben wie die in den Ländern am Mittelmeer. Das geht schon beim Tagesablauf los, der so aussieht, dass man vor 9 Uhr morgens niemanden anrufen sollte,...

Liebt uns!

Man würde ja nicht annehmen, dass die Menschen im kalten Russland ein ähnliches Lebensgefühl haben wie die in den Ländern am Mittelmeer. Das geht schon beim Tagesablauf los, der so aussieht, dass man vor 9 Uhr morgens niemanden anrufen sollte, besser ab zehn. Und dass man am Abend bis 10 Uhr getrost anrufen kann, weil die Leute da erst mit dem Essen fertig geworden sind.Das Lebensgefühl spiegelt sich auch in der Sprache. Um beim Tagesablauf zu bleiben: Die Zeit bis 12 Uhr nennt man nicht Vormittag, sondern einfach den Morgen. Noch südländischer ist der Hang, nach Möglichkeit überall den Superlativ zu verwenden – ganz so, als ob alles immer der Gipfel ist. Alles durchdrungen von großem Pathos, das sich bei alkoholreichen Festen auch darin äußert, dass man seinem Gesprächspartner, auch wenn man ihn eben erst kennengelernt hat, die Bereitschaft ins Gesicht brüllt, sein Leben für ihn zu geben, und im Gegenzug die Zusicherung einfordert, von ihm geachtet und geehrt zu werden.Rituale halt. Und doch ein offenbar tief sitzendes Bedürfnis nach Status oder zumindest Gleichwertigkeit auf Augenhöhe. Gerade Letztere scheinen die Russen ja in einem Ausmaß zu vermissen, dass es fast schon neurotische Züge hat. Und zwar gar nicht vorrangig auf der persönlichen Ebene, sondern auf der zwischenstaatlichen. Der Ursprung dieses gefühlten Mangels ist vielschichtig und hat schon vor Jahrhunderten, spätestens aber im 19. Jahrhundert begonnen, als die Intellektuellen sich daran abarbeiteten, worin und warum Russland hinter dem Westen zurücksteht. Später kam der große Dämpfer in den 1990er Jahren hinzu, als die Niederlage im Kalten Krieg als eine bewusste Demütigung durch den Westen aufgefasst wurde, die sich bis heute als Trauma hält und an deren Beseitigung Kreml-Chef Wladimir Putin inzwischen mehr arbeitet als am breiten Wohlstand seiner Bevölkerung.Geachtet und nach Möglichkeit geliebt zu werden ist die Kategorie, mit der Außenpolitik und sogar Außenwirtschaft gern gemessen werden. Mit dem Spezifikum, dass jegliche Kritik von außen gleich als mangelnde Liebe und mangelnde Achtung interpretiert wird. So hat dieser Tage etwa der litauische Außenminister, Linas Linkevicius, die Hälfte seines Interviews für den russischen Radiosender “Moskaus Echo” damit zubringen müssen, zu erklären, dass sich seine und des Westens Kritik an der russischen Politik gegen diese Politik richtet und nicht gegen Land und Leute. Die weißrussische Opposition wiederum hat gleich zu Beginn ihrer Massenproteste erklärt, dass diese sich gegen Diktator Alexander Lukaschenko richten und nicht gegen Russland.Es ist manchmal zum Verzweifeln. Bedient ein Kellner in einem europäischen Restaurant zufällig zuerst einen anderen Tisch, wittern die Russen dahinter eine bewusste Demütigung ihrer selbst. Sieht ihr Steak auf dem Teller kleiner aus als das des Nachbarn, hat sich abermals die Welt gegen das Russische schlechthin verschworen. Und weil in europäischen Ländern die Kaufläden früher schließen, so tun sie das wohl auch, um den Russen zu schaden, die so gern am späten Abend einkaufen.Das psychologische Problem des gefühlten Mangels an Achtung haben die Russen vor allem mit den Europäern. Mit den USA hat man ohnehin keine Illusion, dass es hier im besten Fall zu einer Antipathie auf Augenhöhe reicht, im schlechteren Fall nicht auf Augenhöhe. Man hat Donald Trump nie recht gemocht, ihn aber einer russlandskeptischen Hillary Clinton klar vorgezogen und stilistisch auch besser verstanden. Nun muss man also wieder mit einem Demokraten zurechtkommen. Interessant, dass sogar eine gewisse Hoffnung auf Joe Biden ruht, wie diverse russische Experten meinen. Und zwar insofern, als Biden trotz seiner ideologischen Rhetorik, die der Kreml nicht ausstehen kann, erstens keine großen Handelskonflikte anpeile, was die Nachfrage nach russischen Rohstoffen stabiler mache, und zweitens mit seiner grünen Offensive nicht die US-Gasproduzenten lobbyiere, die Gazprom in Europa als Konkurrenten stören würden. Allein dass den Russen ein Demokrat besser gefallen könnte als ein Republikaner, zeigt: Die Welt ist im Jahr 2020 offenbar an allen Ecken und Enden verrückt.