NOTIERT IN TOKIO

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Viele japanische Oberschüler seufzten kürzlich glücklich auf: Bildungsminister Koichi Hagiuda verschob neue Englischprüfungen, die neben den Fähigkeiten im Lesen und Hören auch das Sprechen bewerten, auf das Jahr 2024. Ursprünglich wollte die...

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Viele japanische Oberschüler seufzten kürzlich glücklich auf: Bildungsminister Koichi Hagiuda verschob neue Englischprüfungen, die neben den Fähigkeiten im Lesen und Hören auch das Sprechen bewerten, auf das Jahr 2024. Ursprünglich wollte die Regierung solche Tests als Teil der Aufnahmeprüfungen für die Universitäten schon im nächsten Jahr einführen. Auf diese Weise sollte die Zahl der jungen Japaner, die fließend Englisch sprechen, erhöht werden. In der Rangliste des Schweizer Bildungsanbieters EF für Englischfähigkeiten steht Japan nämlich unter 100 Ländern knapp vor Indonesien nur an 53. Stelle.Das verblüffend niedrige Englischniveau in einem Land, das so viel Wert auf gute Bildung legt, erklärt sich vor allem daraus, dass die Schüler nur Vokabeln und Grammatik pauken, weil die Aufnahmetests für die Universitäten nur diese Bereiche abfragen. So lernt man Englisch natürlich genauso wenig sprechen wie Basketball spielen ohne Ball. Die eigentliche Lernhürde liegt allerdings woanders: Japanisch ist mit keiner anderen Sprache eng verwandt. Daher benötigen Japaner im Schnitt 5 000 Stunden Englischunterricht, um in Großbritannien oder den USA allein klarzukommen, und 15 000 Stunden Lernzeit für das Verständnis von Filmen ohne Untertitel. Aber zwischen der 5. und 12. Klasse erhalten Schüler nur 850 Unterrichtsstunden Englisch, also viel zu wenig, um es mit Selbstvertrauen anwenden zu können.Darüber hinaus haben viele nämlich kaum Kontakt zur englischen Sprache. Die meisten verlassen ihre Inseln nicht, kennen keine Ausländer, hören keine englische Musik und schauen keine Hollywood-Filme und US-Fernsehserien im Original. Daher wollte die Regierung die Motivation steigern, indem sie die Bewerbung um einen Studienplatz von den Sprechfähigkeiten abhängig macht. Doch Eltern und die Opposition empörten sich darüber, dass die Studienbewerber zu privaten Anbietern in städtischen Testzentren gehen sollten. Das benachteilige arme und auf dem Land lebende Familien. Nun will das Bildungsministerium einen eigenen Englischtest inklusive Sprechprüfung entwickeln. *Chinesisch können japanische Muttersprachler deutlich schneller lernen: Mit Buddhismus und Konfuzianismus gelangten nämlich vor anderthalbtausend Jahren die chinesischen Schriftzeichen und damit viele chinesische Wörter nach Japan. Beide finden sich nach langer Anpassung bis heute in der Schrift- und Wortsprache wieder. Die uralten Kulturverbindungen verursachen jedoch bei vielen Japanern zwiespältige Gefühle, seitdem sich China zu einer Weltmacht entwickelt und Japan als überragende Wirtschaftsnation in Asien abgelöst hat.Neuerdings erleben die Insulaner auch einen Ansturm von Chinesen. Sie stellen das größte Kontingent der stark gestiegenen Zahl an Auslandstouristen, allein zwischen Januar und September waren es 7,4 Millionen. An japanischen Universitäten schreiben sich viele Chinesen ein, auch ein Viertel der ausländischen Arbeitskräfte kommt aus dem Reich der Mitte, und jede vierte Flugverbindung von Japan ins Ausland geht inzwischen nach China.Doch diese Entwicklungen nehmen die Japaner eben auch als Indizien für ein starkes, selbstbewusstes China wahr, was sie wiederum ihre Nachbarn negativer wahrnehmen lässt. Laut einer jüngeren Umfrage haben knapp 85 % der Japaner einen “unvorteilhaften Eindruck” von China, während 46 % der Chinesen von Japan einen “vorteilhaften Eindruck” haben. Fast 45 % der Japaner beschreiben die bilateralen Beziehungen als “schlecht” oder “relativ schlecht”. Diese Sichtweise widerspricht dem politischen Tauwetter zwischen Tokio und Peking. Vor einem Jahr durfte Premier Shinzo Abe erstmals Chinas Präsident Xi Jinping in Peking treffen, der Gegenbesuch ist für das Frühjahr 2020 geplant. Es wäre die erste Visite eines chinesischen Staatsführers in Japan seit zwölf Jahren. Mit der Annäherung reagieren beide Seiten auf den handelsstreitsüchtigen US-Präsidenten Donald Trump. Nur versteht die japanische Öffentlichkeit bisher offenbar nicht, welche Absichten gegenüber China ihre Regierung eigentlich verfolgt.