Mit Tinder und der Bahn auf in die Europawahl
Ein “großes Fest der Demokratie” verspricht das Europaparlament für das anstehende Wahlwochenende. Für wen dieses Fest dann mit einem formidablen Kater endet, wird sich zeigen. Sicher ist zumindest, dass sich so viele Menschen wie noch nie in den vergangenen Wochen darum bemüht haben, dass die Europawahl auch wirklich ein Feiertag wird. Tausende vor allem junge Menschen haben sich beim EU-Parlament gemeldet, um die Wahlen ehrenamtlich zu unterstützen. Viele Prominente haben zugleich dazu aufgerufen, zur Wahl zu gehen, damit am Ende nicht noch einmal wie 2009 und 2014 eine Wahlbeteiligung von gerade einmal 43 % verbucht wird. In Cannes haben in dieser Woche zum Beispiel 500 Filmschaffende ein “Europäisches Manifest” veröffentlicht, in dem sie sich für ein “freies und demokratisches Europa, ein Europa der Gedanken- und Meinungsfreiheit” einsetzen. Regisseure wie Wim Wenders oder Schauspieler wie Ralph Fiennes appellieren deshalb auch für eine Teilnahme an der Wahl. *Und auch viele Unternehmen beteiligen sich an den Mobilisierungskampagnen. Rund 340 Partnerschaften mit Firmen und anderen internationalen Organisationen ist das EU-Parlament im Zuge der Wahlen eingegangen. Ob dies immer mit einer glühenden Leidenschaft für die europäische Demokratie zu tun hat oder doch mehr mit einem geschickten paneuropäischen Marketing, sei einmal dahingestellt. Aber nun werden auf jeden Fall in diesen Tagen Digitalfirmen mit einer großen Reichweite wie Instagram oder Google auf ihren Seiten auf die Europawahl hinweisen. Deutsche Großkonzerne wie Lufthansa und Volkswagen rühren die Werbetrommel. In rund 8 000 deutschen Bäckereien sind die Brötchentüten in diesen Tagen mit der Europaflagge verziert. Der Streamingdienst Spotify hat eine eigene Wahl-Playlist zusammengestellt (“Get Vocal, Europe!”) mit je einem Lied aus allen 28 EU-Mitgliedstaaten. Lime, der US-Anbieter von E-Tretrollern, der bereits in Brüssel, Paris, Wien und anderen Städten aktiv ist und auch in Berlin schon mit den Hufen scharrt, wird am Wahltag seine Roller kostenlos zur Verfügung stellen (damit man damit zum Wahllokal fahren kann). Und sogar Tinder ist mit unter den Unterstützern zu finden. Ob die Partnerbörse dabei vor allem Angebote an die künftigen EU-Abgeordneten im Blick hat oder doch eher eine Wahlkampfhilfe für den europäischen Parteienverbund Parti Europeen l’Amour (in Deutschland als “Europäische Partei Liebe” auf dem Wahlzettel in etwa an Position 30 zu finden) leisten möchte, ist bisher nicht wirklich bekannt. *Auch die Deutsche Bahn ist auf diesen Zug aufgesprungen (wenn dieses windschiefe Bild an dieser Stelle erlaubt ist). Vorstandschef Richard Lutz ist am Mittwoch extra nach Brüssel gereist, um hier im Südbahnhof einen ICE auf den Namen “Europa/Europe” zu taufen. Der Zug, den statt des üblichen roten ein EU-blauer Querstreifen ziert, wird künftig zwischen Frankfurt und Brüssel hin und her pendeln. “Die europäische Eisenbahnerfamilie liebt Europa”, sagte Lutz, der in den Bahnen “Botschafter der europäischen Idee” sieht. Und so wurden auf Gleis 6 am Bahnhof Bruxelles-Midi Gläser mit Sekt gegen die ICE-Fenster gekippt, eine Blaskapelle stimmte die “Ode an die Freude” an, und Maros Sefcovic, einer der Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, der sich dieses Ereignis ebenso wenig entgehen lassen wollte wie der belgische Mobilitätsminister und die Chefin der belgischen Eisenbahnen (SNCB), sagte, “Europa” sei für den Zug ein “great name”. Im Publikum waren derweil noch nicht alle überzeugt. Es sei ja alles schön und gut mit Europa und dem Ganzen, flüsterte einer. Aber am Ausgang der Wahlen am Sonntag werde dies ja wohl kaum etwas ändern. *Eine größere Wirkung hat wohl das EU-Parlament selbst erzielt: Das Drei-Minuten-Video “Wähle deine Zukunft”, das mit rührseliger Musik unterlegt Szenen einer Geburt zeigt, wurde online mittlerweile mehr als 130 Millionen Mal angesehen.