Interview mit EZB-RatsmitgliedYannis Stournaras

"Noch sehr viel restriktiver Impuls in der Pipeline"

Die EZB hat vergangene Woche ihre Leitzinsen zum zehnten Mal in Folge erhöht. Die große Frage ist, ob damit der Zinsgipfel erreicht ist. Im Interview äußert sich Yannis Stournaras, Gouverneur der griechischen Zentralbank, zu Lage und Ausblick.

"Noch sehr viel restriktiver Impuls in der Pipeline"

Herr Stournaras, lassen Sie uns doch gleich mit der 1-Mill.-Dollar-Frage anfangen: Ist nach der zehnten Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Folge der Zinsgipfel erreicht?

Ja, ich denke, wir haben den Zinsgipfel erreicht. Das ist mein Gefühl und mein Verständnis.

Was macht Sie beziehungsweise den EZB-Rat zuversichtlich, dass das jetzt erreichte Zinsniveau von 4,5% beim Leitzins und 4,0% beim Einlagenzins das richtige ist? Warum nicht 25 Basispunkte weniger oder 25 Basispunkte mehr?

Geldpolitik ist keine exakte Wissenschaft. Aber unser Eindruck ist, dass das jetzt erreichte Zinsniveau, wenn wir es für einige Zeit beibehalten, dazu führen wird, dass die Inflation Ende 2025 wieder auf unserem Zielwert von 2,0% liegt. Vielleicht gelingt das sogar etwas früher.

Der Realzins, also der Leitzins abzüglich der Inflation, liegt aber auch nach der neuerlichen Zinserhöhung noch im negativen Bereich – angesichts einer Inflationsrate von zuletzt immer noch 5,3%. Kritiker argumentieren, das sei noch nicht restriktiv genug.

Zunächst einmal: Man sollte die Realzinsen nicht mit der aktuellen Inflation kalkulieren, sondern mit der erwarteten Inflation. Sonst begeht man einen schweren Fehler. Grundsätzlich aber gilt: Wir sollten nicht zu sehr auf die realen Zinsen fixiert sein und nicht nur auf das Niveau schauen. Es geht auch um die Veränderung. Die Leitzinsen haben sich jetzt so stark und schnell erhöht wie noch nie und dadurch haben sich auch die Finanzierungsbedingungen für Haushalte und Unternehmen erheblich verschärft. Das zeigt sich auch sehr deutlich. Nehmen Sie zum Beispiel die neuen Wachstumsprojektionen der EZB-Volkswirte. Für 2023 sagen diese de facto Stagnation voraus. Nicht geringes Wachstum, sondern Stagnation. Die prognostizierten 0,7% Wachstum resultieren fast ausschließlich aus positiven Überhangeffekten aus 2022. Auch die Nachfrage nach Bankkrediten ist deutlich zurückgegangen. Die Geldpolitik wirkt bereits stark und dämpft die Nachfrage erheblich.

Die Inflation ist aber mit 5,3% immer noch deutlich zu hoch und vor allem der zugrundeliegende Preisdruck hält sich sehr hartnäckig.

Unser primäres Mandat ist Preisstabilität und wir wollen die Inflation zeitnah auf 2,0% zurückbringen – das ist ganz klar. Wir schauen aber auch auf die Wirtschaft, uns liegen auch das Wachstum und die Beschäftigung am Herzen. Wir fühlen auch eine soziale Verantwortung. Außerdem führt geringeres Wachstum mittelfristig zu weniger Inflation. Man darf auch nicht vergessen: Geldpolitik wirkt mit zeitlicher Verzögerung. Angesichts der erheblichen geldpolitischen Straffung seit Juli 2022 ist also noch sehr viel restriktiver Impuls in der Pipeline.

Kritiker der Zinserhöhung sagen sogar, dass die EZB mit der neuerlichen Zinserhöhung die Wahrscheinlichkeit einer Rezession im Euroraum erhöht.

Das stimmt. Ich hätte es auch vorgezogen, wenn wir die Leitzinsen unverändert gelassen hätten. Der deutliche Inflationsrückgang, die stagnierende Wirtschaft, die bisherige Straffung – das hätte aus meiner Sicht den Verzicht auf eine Zinserhöhung gerechtfertigt. Aber es gab gute Argumente auf beiden Seiten und deswegen kann ich mit der Entscheidung leben. Man sollte es mit der restriktiven Geldpolitik aber auch nicht übertreiben. Sonst entstehen auch Risiken für die Finanzstabilität. Ich mache mir große Sorgen um die „Schneeballeffekte“…

… also eine Situation, in der die Zinskosten das nominale Wirtschaftswachstum übersteigen und die Schuldenquote ansteigt.

Ja, genau. Viele denken, das sei nur für die Staaten und die öffentlichen Finanzen relevant. Das gilt aber auch für Privathaushalte und Unternehmen. Da können wir schnell in große Probleme geraten. Bislang hatten wir das Glück, dass das nominale Wachstum sehr viel höher war als die Zinskosten. Das kann sich jetzt aber umdrehen. Umso wichtiger ist deshalb jetzt, dass auch alle anderen ihren Beitrag leisten. Deswegen appellieren wir insbesondere auch an die Fiskalpolitik und haben das auch beim jüngsten informellen Ecofin in Spanien sehr deutlich gemacht.

Das heißt konkret?

Erstens braucht es jetzt eine mindestens neutrale, eher aber restriktivere Fiskalpolitik, damit wir mit den Zinserhöhungen aufhören können. Wenn es jetzt breite Ausgabenprogramme geben würde, müssten wir als EZB nur noch stärker straffen, um die Nachfrage zu dämpfen. Damit wäre niemandem geholfen. Zweitens: Sollte die Wirtschaft Unterstützung brauchen, müssen die Hilfen sehr zielgenau auf die Schwächsten in der Gesellschaft ausgerichtet und auf Zukunftsinvestitionen fokussiert sein, die die Produktivität erhöhen – also etwa in die Digitalisierung und die grüne Transformation. Schließlich brauchen wir drittens eine schnelle Einigung auf die neuen EU-Fiskalregeln. Wir brauchen mehr Flexibilität und stärker antizyklische Regeln, die aber trotzdem Anreize setzen zum Schuldenabbau. Die Vorschläge der EU-Kommission gehen da in die richtige Richtung. Bei einer Rückkehr zum alten Stabilitäts- und Wachstumspakt wären wir tot und begraben. Geld- und Fiskalpolitik müssen jetzt strategische Komplementäre sein.

Und um die Unabhängigkeit der EZB sorgen Sie sich nicht?

Unabhängig zu sein heißt nicht, nicht miteinander zu reden. Wir müssen kooperieren. Im Übrigen sollten wir auch die Währungsunion vollenden.

Was meinen Sie genau?

Wir brauchen die Bankenunion und die einheitliche Einlagensicherung. In Europa braucht es mehr Level-Playing-Field. Deutschland ist da in vielem immer noch gleicher als andere. Nur so wird es auch nötige grenzüberschreitende Zusammenschlüsse von Banken und Unternehmen geben. Wir sollten zudem über mehr gemeinsame Ausgaben nachdenken. Für ein gemeinsames, schlagkräftiges EU-Budget ist es vielleicht noch zu früh. Aber wir sollten schauen, wo es Sinn macht, gemeinsam Geld auszugeben – Verteidigung, Klimaschutz und anderes. Wir müssen aufhören, immer zuerst in nationalen Kategorien zu denken. Wir müssen stärker zusammen handeln in Europa. Wenn wir uns auf die neuen Fiskalregeln und auf die Bankenunion einigen würden, würde das der europäischen Wirtschaft einen enormen Impuls geben.

Lassen Sie uns zur Geldpolitik zurückkommen. An den Finanzmärkten wird nach der jüngsten Zinserhöhung stark auf Zinssenkungen im Jahr 2024 gewettet, womöglich schon im Frühjahr. Sind Sie damit glücklich?

Es ist noch zu früh zu sagen, wann die Leitzinsen wieder gesenkt werden können. Wir müssen sie erst einmal einige Zeit auf dem aktuellen Niveau halten. Das haben wir auch kommuniziert.

„Lange genug“, ist die Sprachregelung. Was heißt das denn?

Das ist schwer zu sagen. Es geht auf jeden Fall um einige Monate. Wie viele es sein werden, müssen wir dann datenabhängig entscheiden.

Aber Sie würden in jedem Fall sagen, dass unabhängig vom konkreten Datum der nächste Zinsschritt der EZB eine Zinssenkung sein wird, keine Erhöhung?

Die Unsicherheit ist groß und es gibt Risiken. Aber ich gehe nach aktuellem Stand davon aus, dass unser nächster Schritt eine Zinssenkung sein wird.

Eine andere Diskussion ist jene über die durch die Anleihekäufe aufgeblähte EZB-Bilanz. Einige Ihrer Ratskollegen plädieren für mehr Tempo beim Bilanzabbau und insbesondere dafür, die Reinvestitionen beim Corona-Notfallanleihekaufprogramm PEPP früher als erst Ende 2024 zurückzufahren. Was halten Sie davon?

Wir müssen da sehr vorsichtig sein. Für den Moment haben wir die Geldpolitik genug gestrafft. Wir führen die Bilanz auch jetzt schon sehr stark zurück, weil wir die Reinvestitionen beim Kaufprogramm APP beendet haben. Wenn wir das Tempo jetzt deutlich erhöhen würden, könnte es einen Aufschrei an den Märkten geben und zu Turbulenzen kommen. Da sollten wir keine unnötigen Risiken eingehen. Das gilt umso mehr, als uns das PEPP-Programm die nötige Flexibilität zum Handeln gibt, falls es Probleme bei der Transmission der Geldpolitik geben sollte.

Und das gilt dann auch für aktive Anleiheverkäufe – statt nur die Reinvestitionen zu beenden, wie beim APP.

Ein solcher Schritt wäre sehr riskant. Übrigens, da ist noch ein zweites Argument. Wenn wir Anleihen verkaufen würden, würden wir als Notenbanken Verluste auf diese Anleihen realisieren, die bislang rein theoretisch sind und nicht Realität werden, wenn wir die Papiere bis zur Fälligkeit halten. Warum sollten wir das tun?

Sie sind dann vermutlich auch eher skeptisch, was eine Erhöhung des Mindestreservesatzes betrifft, der derzeit bei 1% liegt. Einige Notenbanker haben Sympathie für einen solchen Schritt, mit dem sich die enorme Überschussliquidität im System etwas reduzieren würde.

Auch da gilt: Wir sollten jetzt erst einmal unseren bisherigen Maßnahmen Zeit geben, ihre volle Wirkung zu entfalten. Wir sollten jetzt nicht übereilt neue Entscheidungen treffen. Die bisherige Straffung – die Zinserhöhungen, der Bilanzabbau, die Rückführung von Liquiditätshilfen – ist enorm. Unsere Geldpolitik ist einer der wichtigsten Gründe für die deutliche Abschwächung der Wirtschaft, die wir beobachten. Das war und ist gewollt, weil wir die Nachfrage dämpfen wollen. Wir dürfen es aber auch nicht übertreiben.

Aus Ihrer Sicht ist es aktuell also die größere Gefahr, die Geldpolitik zu viel zu straffen statt zu wenig? Einige Ihrer Kollegen argumentieren wegen der hohen Inflation genau andersherum.

Ja, für mich ist derzeit die größere Gefahr, zu viel zu tun. Wir sollten und müssen die Wirtschaft nicht komplett abwürgen. Die Inflation wird in den nächsten Monaten deutlich zurückgehen. Ende des Jahres dürfte sie bei rund 3% liegen. Auch bei der Kerninflation ist die Trendwende geschafft. Die Kernrate folgt der Gesamtrate mit einiger Verzögerung. Das geht alles in die richtige Richtung. Wir sollten ruhig Lehren aus der Vergangenheit ziehen. Wir müssen nicht so lange straffen, bis im Bankensystem oder in der Wirtschaft etwas komplett kaputtgegangen ist.

Ist die EZB aus Ihrer Sicht teilweise zu sehr fixiert auf die aktuellen Inflationszahlen statt auf den Ausblick – womöglich auch wegen der Unterschätzung der Inflation 2021 und 2022?

Ja, das ist definitiv der Fall. Ich zweifle nicht an den Motiven. Vor allem in Deutschland liegt es in der DNA, sehr alarmiert gegenüber der Inflation zu sein. Wir müssen aber vorausschauend Geldpolitik machen, nicht rückwärtsgewandt.

Und es sorgt Sie nicht, dass zuletzt einige Indikatoren für die Inflationserwartungen wieder etwas angezogen haben?

Der Anstieg ist relativ gering und die Inflationserwartungen sind alles in allem immer noch sehr gut verankert. Und der Anstieg wird überkompensiert durch den Rückgang der Wachstumserwartungen. Das ist zumindest kein Grund zu allzu großer Sorge.

Und wie ist es mit Warnungen vor einer zweiten Inflationswelle wie in den 1970er Jahren? Auch namhafte Ökonomen sehen solche Risiken und warnen die Notenbanken deshalb davor, nicht erneut zu früh nachzugeben.

Die Situationen sind nicht vergleichbar und dafür gibt es viele Gründe. Damals hatten viele Länder inflationsindexierte Löhne, auch Griechenland. Heute ist das nur noch in ganz wenigen Ländern der Fall. Zugleich sind die Gewerkschaften sehr viel schwächer als früher. Und es gab wichtige Reformen auf den Arbeitsmärkten, sie sind heute sehr viel flexibler. Wir sind nicht mehr in den 1970er Jahren.

Aber geht nicht gerade von den Löhnen ein Inflationsrisiko aus? Sie sind zuletzt deutlich gestiegen.

Es ist normal, dass es nach den erheblichen Reallohnverlusten eine Gegenbewegung gibt. Aber bislang ist alles im Rahmen. Übrigens nehmen die Löhne im Euroraum in etwa genauso zu wie in den USA, wo die Inflation schon sehr viel stärker zurückgegangen ist. Im Euroraum sind aber die Lohnstückkosten sehr viel stärker gestiegen. Und warum? Weil die Produktivität hier so niedrig ist und zuletzt sogar gesunken ist. Das hat viele Gründe. Ein Grund ist, dass Unternehmen auch in Krisen erst einmal an Mitarbeitern festhalten, weil sie in Zeiten des Fachkräftemangels sonst Sorge haben, später niemanden mehr zu bekommen. Ein zweiter wichtiger Grund ist aber auch, dass wir Nettoenergieimporteur sind. Das wirkt sich aktuell über negative Terms-of-Trade-Effekte auch negativ auf die Produktivität aus. Dagegen können wir geldpolitisch aber nichts tun. Im Gegenteil: Wenn wir die Zinsen haben, nehmen die Investitionen ab und die Produktivität geht noch weiter zurück. Unser Dilemma ist deshalb auch noch größer als in den USA.

English Version

Im Interview: Yannis Stournaras

"Noch sehr viel restriktiver Impuls in der Pipeline"

Das EZB-Ratsmitglied über den weiteren Zinskurs der Notenbank, Inflation und Wachstum in Euroland und die Zukunft der Währungsunion

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat vergangene Woche ihre Leitzinsen zum zehnten Mal in Folge erhöht. Der Einlagenzins liegt mit 4,0% jetzt so hoch wie noch nie. Die große Frage ist, ob damit der Zinsgipfel erreicht ist. Im Interview äußert sich Yannis Stournaras, Gouverneur der griechischen Zentralbank, zu Lage und Ausblick.

Das Interview führte Mark Schrörs.