Geldpolitik

Offener Streit im EZB-Rat

EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat am Montag mit ihrer Positionierung zum weiteren Zinskurs für einigen Ärger im EZB-Rat gesorgt. Am Dienstag folgt der erste öffentliche Widerspruch eines Euro-Notenbankers.

Offener Streit im EZB-Rat

Von Mark Schrörs, Frankfurt

In der Europäischen Zentralbank (EZB) ist ein offener Streit über den weiteren geldpolitischen Kurs entbrannt. Konkret geht es um die Frage, ob bei der inzwischen als sicher geltenden ersten Zinserhöhung im Juli gleich eine Anhebung um 50 statt um 25 Basispunkte erfolgen sollte. Dahinter steckt aber auch eine Art größerer Kampf um die Deutungshoheit in der Frage, wie entschlossen die EZB gegen die rekordhohe Inflation vorgeht. Mittendrin: EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die am Montag mit ihrer Positionierung zum weiteren Kurs für einigen Ärger gesorgt hatte (vgl. BZ vom 24. Mai).

In einem Blog-Beitrag auf der EZB-Internetseite hatte Lagarde einen klaren Fahrplan für die nächsten Monate skizziert: Ende der billionenschweren Nettoanleihekäufe früh im dritten Quartal, eine erste Zinserhöhung im Juli und eine weitere im September – wobei das so interpretiert wurde, dass es um jeweils 25 Basispunkte geht, weil Lagarde zugleich von einem Ende des Negativzinses bis Ende September sprach. Der Einlagenzins liegt bei −0,5%.

Das Format mit einem Blog-Beitrag und die Klarheit der Zinsaussagen waren extrem außergewöhnlich. Das war sicher auch so etwas wie der Versuch, die Zinsdebatte wieder mehr von der Spitze aus zu gestalten – nachdem sich zuletzt immer mehr Euro-Notenbanker geäußert und speziell die Hardliner („Falken“) die Schlagzeilen beherrscht hatten. Lagarde wollte damit auch den An­satz einer „graduellen“ Normalisierung untermauern und verteidigen.

Bei so manchem im EZB-Rat, der sich ein aggressiveres Vorgehen ge­gen die hohe Inflation vorstellen kann, sorgte das für Ärger. Und das umso mehr, als Lagarde de facto das Ergebnis gleich der drei nächsten Zinssitzungen vorwegnahm. Das schürte ungute Erinnerungen an Ex-EZB-Chef Mario Draghi, der den Rat im­mer wieder mit öffentlichen Alleingängen unter Zugzwang setzte.

Am Dienstag nun bot EZB-Ratsmitglied Robert Holzmann Lagarde öffentlich die Stirn. Ein Schritt von 50 Basispunkten im Juli wäre „angemessen“, sagte der österreichische Notenbankchef in einem Interview in Wien. „Ein größerer Schritt zu Beginn unseres Zinserhöhungszyklus wäre sinnvoll“, so Holzmann, einer der vehementesten „Falken“ im EZB-Rat: „Er würde die Menschen wachsam halten und den Märkten signalisieren, dass wir die Notwendigkeit zum Handeln erkannt haben.“ Anfang Mai hatte die US-Notenbank Fed im Kampf gegen die hohe Inflation ihren Leitzins gleich um 50 Basispunkte angehoben – erstmals seit mehr als 20 Jahren. Auch der niederländische Zentralbankchef Klaas Knot hatte eine 50-Punkte-Erhöhung im Juli ins Spiel gebracht.

Holzmann ging sogar noch einen Schritt weiter in seiner Argumentation für eine kräftige Zinserhöhung im Juli: „Alles andere würde Gefahr laufen, als schwach wahrgenommen zu werden.“ Damit wirft er auch die Frage der Glaubwürdigkeit der EZB im Kampf gegen die Inflation auf, die im April auf dem absoluten Rekordniveau von 7,4% lag. Die EZB strebt mittelfristig 2% an.

Bestärkt fühlen könnte sich Holzmann in seiner Warnung durch am Dienstag veröffentlichte Daten zur Lohnentwicklung im Euroraum. Ein von der EZB ermittelter Indikator für die ausgehandelten Löhne stieg im ersten Quartal stärker als erwartet. Das Plus im Jahresvergleich legte von 1,5% auf 2,8% zu. Die größte Sorge vieler Notenbanker ist derzeit, dass die bereits gestiegenen Inflationserwartungen zu stark steigenden Löhnen führen, und sich Preise und Löhne am Ende gegenseitig hochschaukeln. „Das setzt die EZB unter Druck, die Geldpolitik rasch zu normalisieren“, sagte Bert Colijn, leitender Eu­ro-Volkswirt der ING, zu den neuen Daten. „Eine Anhebung um 50 Basispunkte im Juli ist nicht vom Tisch.“

Lagarde ihrerseits untermauerte am Dienstag, dass sich die EZB nicht dazu drängen lassen werde, ihre Geldpolitik überstürzt zu straffen. „Es handelt sich definitiv um Inflation, die durch die Angebotsseite angeheizt wird“, sagte sie beim Weltwirtschaftsforum in Davos zu Bloomberg TV. „In dieser Situation müssen wir uns natürlich in die richtige Richtung bewegen, aber wir dürfen nichts überstürzen und nicht in Panik geraten.“ Rückendeckung erhielt sie von Frankreichs Notenbankchef François Villeroy de Galhau. „Eine Anhebung um 50 Basispunkte ist derzeit nicht Teil des Konsenses“, sagte er in Davos. „Es geht um eine Normalisierung unserer Geldpolitik, nicht um eine Verschärfung“, und „die Zinserhöhungen werden schrittweise erfolgen“. Das neutrale Niveau taxiert die EZB aktuell auf 1% bis 2%.

Allerdings sorgte Lagarde auch am Dienstag wieder für etwas Aufsehen. In Davos sagte sie, dass der Einlagenzins bis Ende September bei null oder auch „leicht darüber“ liegen könnte. Das würde auch eine 50-Punkte-Anhebung im Sommer möglich erscheinen lassen. Der konkreten Frage nach einem solchen Schritt wich sie indes aus. Die nächsten Tage bis zur EZB-Sitzung am 9. Juni versprechen auf jeden Fall noch reichlich Spannung.