NOTIERT IN PARIS

Öffentliche Schlammschlachten

Stell Dir vor, es ist Streik, und keiner geht hin. Diese Erfahrungen mussten jetzt Gewerkschaften in Frankreich machen. Eigentlich hatten sie für Montag mit einem schwarzen Montag im Pariser Nahverkehr gedroht, um erneut gegen die von Präsident...

Öffentliche Schlammschlachten

Stell Dir vor, es ist Streik, und keiner geht hin. Diese Erfahrungen mussten jetzt Gewerkschaften in Frankreich machen. Eigentlich hatten sie für Montag mit einem schwarzen Montag im Pariser Nahverkehr gedroht, um erneut gegen die von Präsident Emmanuel Macron geplante Rentenreform zu protestieren. Doch Métro, Vorortbahnen und Busse fuhren nahezu unbeeinträchtigt. Nach dem 5. Dezember hatten Streiks gegen das Reformprojekt den öffentlichen Nahverkehr in der französischen Hauptstadt mehrere Wochen lang mehr oder weniger zum Erliegen gebracht. Inzwischen jedoch scheint den Reformgegnern zumindest bei den Streiks die Puste auszugehen.Die Opposition ist dagegen wild entschlossen, alle ihr zur Verfügung stehenden legalen Mittel zu nutzen, um sich gegen die Rentenreform zu wehren. So stellte sie nicht weniger als 22 000 Änderungsanträge, als der Entwurf dafür von einer Spezialkommission der Assemblée Nationale geprüft wurde. Diese konnte deshalb ihre Arbeit nicht in dem vorgegebenen Zeitrahmen beenden, bevor der Text dem Parlament diesen Montag vorgelegt wurde. Der Großteil der Änderungsanträge stammte von Vertretern der linkspopulistischen Partei La France insoumise (“Das unbeugsame Frankreich”). “Wir wollen die Regierung zwingen, einen Rückzieher zu machen”, sagt der kommunistische Abgeordnete Pierre Dharréville.Deshalb sind Abgeordnete von La France insoumise und den Kommunisten jetzt noch einen Schritt weiter gegangen. Für die Debatte der Reform im Parlament liegen von ihnen inzwischen 41 000 Abänderungsanträge vor. Damit zeichnet sich ein erbitterter Kampf im Parlament ab. Vor allem aber ist der von Premierminister Édouard Philippe anvisierte Zeitplan nicht mehr einzuhalten. Eigentlich hatte er gehofft, dass die Nationalversammlung noch vor den Kommunalwahlen am 15. und 22. März über die Rentenreform abstimmen würde. Da Abgeordneten jeweils zwei Minuten zur Verfügung stehen, um einen von ihnen eingereichten Abänderungsantrag zu verteidigen, würde die Debatte theoretisch acht Wochen non-stop an einem Stück dauern, hat das Nachrichtenmagazin “Nouvel Obs” errechnet.”Wir wollen der Stimme derjenigen Gehör verschaffen, die genug von dieser Regierung haben, die eine ungerechte Politik verfolgt und eine Reform, die sich in einer Verschlechterung der Lebensbedingungen niederschlagen wird”, sagte Ian Brossat, der Sprecher der Kommunisten. Das sei keine Behinderung der Nationalversammlung, argumentiert er. Stattdessen würden die kommunistischen Abgeordneten nur ihre Arbeit machen. Dagegen sei der Regierung die Protestbewegung gegen die Reform egal, obwohl eine Mehrheit in der Bevölkerung gegen die Rentenreform sei. “Das ist inakzeptabel, dass die Regierung die öffentliche Meinung vergewaltigt.” *Die Regierungspartei befindet sich aber nicht nur wegen der drohenden Schlacht um die Rentenreform in der Nationalversammlung in der Bredouille, sondern auch wegen des Debakels um Macrons Wunschkandidaten für die Kommunalwahlen in Paris, den ehemaligen Regierungssprecher Benjamin Griveaux. Macron hatte ihn gegen Widerstand aus den eigenen Reihen durchgesetzt. Doch Griveaux, der in Umfragen relativ weit hinter der amtierenden sozialistischen Bürgermeisterin Anne Hidalgo und der früheren konservativen Justizministerin Rachida Dati lag, zog seine Kandidatur zurück, nachdem der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski Sex-Videos veröffentlicht hatte, die angeblich Griveaux zeigen.Nun tritt Gesundheitsministerin Agnès Buzyn in Paris als Kandidatin der Regierungspartei La République en marche an. Pawlenski sagt, er habe die kompromittierenden Videos publik gemacht, um zu zeigen, welch ein Heuchler Griveaux sei, wenn er vorgebe, der perfekte Familienvater zu sein. In Frankreich, wo die Privatsphäre von Politikern und anderen Persönlichkeiten bisher als sakrosankt galt, fürchten viele Beobachter nun eine Amerikanisierung der Sitten. Vor allem aber sorgen sie sich, dass bestimmte Gruppierungen soziale Netzwerke bei Wahlen verstärkt nutzen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.