Reizfigur Tajani soll Schulz-Nachfolger werden
Von Andreas Heitker, Brüssel, und Detlef Fechtner, FrankfurtIm Europaparlament läuft die Suche nach einem Nachfolger des scheidenden Präsidenten Martin Schulz auf einen italienisch-italienischen Showdown hinaus. Nachdem der Fraktionschef der Sozialisten, Gianni Pittella, bereits seinen Hut in den Ring geworfen hatte, bestimmt die konservative Europäische Volkspartei (EVP) jetzt den früheren EU-Industriekommissar Antonio Tajani zu ihrem Kandidaten. Der 63 Jahre alte Jurist kann für sich ins Feld führen, dass er bereits Vizepräsident des EU-Parlaments ist. Allerdings verliert dieses Argument deutlich an Wucht durch den Hinweis, dass es im EU-Parlament sage und schreibe 14 Vizepräsidenten gibt. Klares Votum in der FraktionTajani hat – und darauf kann er sich tatsächlich etwas einbilden – eine recht robuste Unterstützung in der eigenen Fraktion. Immerhin konnte er sich überraschenderweise fraktionsintern schon im ersten Wahlgang deutlich gegen die Mitbewerber durchsetzen – gegen die Irin Mairead McGuinness, den Slowenen Alojz Peterle und den Franzosen Alain Lamassoure. Tajani kündigte nach der Wahl an, mit anderen politischen Gruppen zusammenarbeiten zu wollen. Er wolle ein “Präsident des Konsenses sein und nicht etwa ein Präsident des ewigen Zwists”. Es gehe schließlich darum, mit anderen politischen Gruppen Brücken zu bauen gegen den Populismus.Große Worte. Doch ob ihm das gelingt, daran gibt es Zweifel. Denn erstens gehört der gebürtige Römer zu den Vertrauten des früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, war einst sein Pressesprecher und Mitbegründer der Partei Forza Italia. Und Berlusconi hat im EU-Parlament noch immer einen ausgesprochen schlechten Ruf, nachdem er sich 2003 in einer denkwürdigen Sitzung in Straßburg ziemlich danebenbenahm, als er dem Sozialdemokraten Martin Schulz empfahl, sich für die Rolle des Kapo in einem Kriegsfilm zu bewerben.Zweitens gilt Tajani vielen Abgeordneten von Sozialdemokraten, Grünen und Linken als zu industriefreundlich. Von Mai 2008 bis Februar 2010 war Tajani EU-Kommissar für Verkehr, im Anschluss übernahm er bis 2014 das Ressort für Unternehmen und Industrie. Gerade in der Abgasaffäre werfen ihm seine Kritiker ein zu nachgiebiges Verhalten gegenüber der Automobilindustrie vor. Drittens schließlich bemängeln selbst wohlgesinnte EU-Beamte, dass Tajani in seiner Amtszeit in der EU-Kommission trotz vollmundiger Ankündigungen wenig auf die Beine gestellt habe. Seine “Aktionspläne” für die Stahlbranche, die Sicherheitsindustrie oder die Bauwirtschaft erwiesen sich letztlich als Luftnummern. Außerdem fiel auf, dass Tajani ständig neue Initiativen für die Tourismuswirtschaft auflegte, was von Kritikern als freundlicher Gruß des EU-Kommissars an sein heimisches Publikum gerügt wurde. Für Grüne “nicht wählbar”Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold fand gestern deutliche Worte: Antonio Tajani sei “nicht wählbar”, kritisierte er. EVP-Fraktionschef Manfred Weber habe “einen Brückenbauer als Kandidaten angekündigt und eine Reizfigur geliefert”. Es schade dem Ansehen des EU-Parlaments, wenn an der Spitze jemand stehe, der den Dieselmanipulationen der Autoindustrie jahrelang tatenlos zugesehen habe, findet der Grünen-Politiker. “Ein umweltpolitischer Schmutzfink ist in Zeiten der Klimakrise im Amt des Parlamentspräsidenten völlig fehl am Platz.”Wie die Wahl des neuen EU-Parlamentspräsidenten am 17. Januar ausgeht, ist noch unklar. Eigentlich stellt die EVP – zur der auch die Abgeordneten von CDU und CSU gehören – mit 216 der 751 Abgeordneten die größte Fraktion vor den Sozialisten (S & D), die auf 190 Mandate kommen. Und eigentlich war in der informellen großen Koalition zwischen beiden Seiten einst vereinbart worden, dass Schulz die erste Hälfte der Legislaturperiode übernimmt und die EVP dann die zweite Hälfte. An diese Vereinbarungen fühlen sich die Sozialisten allerdings nicht mehr gebunden, wie Fraktionschef Pittella gegenüber seinem Amtskollegen Weber in dieser Woche noch einmal ganz deutlich gemacht hatte: “Die Zusammenarbeit ist beendet, lieber Manfred.”Im Gegensatz zu anderen EVP-Politikern wird es Tajani nach Überzeugung von Beobachtern schwer haben, Stimmen in anderen Fraktionen zu sammeln. Kritiker verweisen darauf, dass es letztlich ausgerechnet die Rechtspopulisten im EU-Parlament sein könnten, die Tajani im Kampf gegen seinen Landsmann Pittella im Januar in einem vierten Wahlgang – wenn nur noch die einfache Mehrheit notwendig ist – ins Amt bringen könnten. Explosive WirkungEin Präsident von Marine Le Pens Gnaden – eine solche Konstellation hätte explosive Wirkung für die informelle große Koalition, die in den vergangenen Jahren die Arbeit im EU-Parlament geprägt hat. Das wiederum hätte weitreichende Folgen weit über die Politik hinaus. Denn die enge Kooperation der beiden großen Fraktionen im EU-Parlament trug in den vergangenen Jahren maßgeblich dazu bei, dass die EU überdurchschnittlich schnell überdurchschnittlich viele Gesetze beschlossen hat – vor allem in der Regulierung der Finanzmärkte. Der Streit über die Spitzenpersonalie könnte nun eine Kluft reißen, die das EU-Parlament mittelfristig paralysiert.