NOTIERT IN MOSKAU

Sanktionen lohnen sich

Wenn Diplomatie die Kunst und Praxis des Verhandelns zwischen Vertretern verschiedener Nationen - und zwar auch und gerade in Krisenzeiten - ist, dann hat die EU hinsichtlich Russland in dieser Disziplin zuletzt nicht geglänzt. Auch wenn die...

Sanktionen lohnen sich

Wenn Diplomatie die Kunst und Praxis des Verhandelns zwischen Vertretern verschiedener Nationen – und zwar auch und gerade in Krisenzeiten – ist, dann hat die EU hinsichtlich Russland in dieser Disziplin zuletzt nicht geglänzt. Auch wenn die Kontakthäufigkeit kein Erfolgsgarant ist, wie das russisch-amerikanische Verhältnis zeigt, so sieht Beziehungspflege doch anders aus. Immerhin hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Juni 2016 insofern guten Willen gezeigt, als er das Internationale Wirtschaftsforum in St. Petersburg besuchte. Gestern weilte EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zu ihrem ersten (sic!) offiziellen Besuch in Moskau.Ebendort hat sie festgehalten, dass die Sanktionen, die die EU als Reaktion auf Russlands Interventionen in der Ukraine 2014 verhängt hatte, bestehen bleiben. Ein eindeutiges Bild, wie sie sich auswirken, kann sie dabei nicht gewonnen haben. Und zwar, weil es einfach keines gibt. Nicht einmal in Russland selbst hat man eines, wie zuletzt wieder offenbar wurde. Der offiziellen Sichtweise, dass die Sanktionen dem Land nichts anhaben können, ja die Wirtschaft sogar stärken und die Rezession der vergangenen beiden Jahren fast ausschließlich dem Ölpreisverfall geschuldet war, widersprach vorige Woche Ex-Finanzminister Alexej Kudrin. Er, der von Kremlchef Wladimir Putin hochgeschätzt ist und eine gewisse Narrenfreiheit genießt, sprach neben dem Ölpreisverfall von einer “sehr schmerzhaften” Wirkung der Sanktionen: “Sie haben einen vorwiegend negativen Einfluss auf unseren Markt.” Putin korrigierte ihn diesmal nicht. Im Vorjahr wurde Kudrin noch gescholten, als er vorschlug, zugunsten des BIP-Wachstums die geopolitischen Spannungen zu reduzieren.Unter Experten herrscht Einigkeit, dass die Sanktionen den Negativeffekt des Ölpreisverfalls ab Mitte 2014 verstärkten. So wie sie angelegt sind – Handels- und Finanzierungsnachteile für Putins engste Vertraute, Exportverbot für Double-Use-Güter und Technologie zur Förderung aus schwer zugänglichen Öllagerstätten -, würden sie gerade mal 10 % der russischen Wirtschaft betreffen, hält Andrej Mowtschan, Leiter der Wirtschaftsabteilung im Moskauer Carnegie Center, fest. Die Weltbank schätzt, dass die Sanktionen das BIP etwa einen halben Prozentpunkt an Wachstum kosten.Gewiss, der eingeschränkte Zugang russischer Firmen zum westlichen Kapitalmarkt schmerzt und engt den Spielraum auch gerade jetzt, da ein zarter Aufschwung einsetzt, ein. Dafür verteuert die vom Ölpreisverfall und von der – auch geopolitisch motivierten – Kapitalflucht bewirkte Rubelabwertung den Import. Im Agrarsektor kam er ganz zum Erliegen, weil Russland als Reaktion auf die Sanktionen ein Importembargo verhängte. Das tut der lange vernachlässigten russischen Landwirtschaft gut. Die Verbraucher mussten auf einheimische Erzeugnisse umsteigen. Russlands Agrarproduktion ist in den Rezessionsjahren 2015/2016 sogar gewachsen. Der Staat fördert den Sektor massiv. Private investieren Milliarden. Ohne Kollateralschäden für die eigene Bevölkerung läuft das freilich nicht ab. Die Qualität der Produkte bleibt hinter denen aus dem Westen zurück, während der Mangel zu signifikanten Preiserhöhungen führte.Das Regime aber hat entgegen manchen Erwartungen bisher keine Anstalten gemacht, geopolitisch einzulenken. Lebensstandard und Reallöhne sinken seit Jahren. Wegen der Sanktionen kann Putin die Wirtschaftskrise dem Westen in die Schuhe schieben. Experte Mowtschan weist auf einen weiteren Umstand hin: Da es für das Establishment riskant geworden sei, Vermögen im Ausland zu halten, habe Putin mehr Kontrolle über seine Leute erhalten. Dafür werden sie teils reichlich belohnt. Für die Entwicklung russischer Äquivalente westlicher Produkte wie Software oder zivile Flugzeuge gibt es Milliarden an Förderungen. Auffällig auch, dass nun zehn Unternehmer aus dem Agrarsektor in der Forbes-Liste der 200 reichsten Russen stehen.Sergej Aksjonow, Ministerpräsident der annektierten Krim, brachte dieser Tage die Situation auf den Punkt, indem er eine russische Phrase über Kriegsgewinnler auf die Sanktionen ummünzte: “Für die einen sind es Sanktionen, für die anderen die nährende Mutter.”