NOTIERT IN HONGKONG

Schönheitskönigin oder hässliches Entlein?

Wenn die zwei bevölkerungsmäßig größten Länder der Welt miteinander verglichen werden, so wird China üblicherweise die Krone der Schönheitskönigin aufgesetzt, während Indien als hässliches Entlein gilt. Dafür gibt es gute wirtschaftliche und soziale...

Schönheitskönigin oder hässliches Entlein?

Wenn die zwei bevölkerungsmäßig größten Länder der Welt miteinander verglichen werden, so wird China üblicherweise die Krone der Schönheitskönigin aufgesetzt, während Indien als hässliches Entlein gilt. Dafür gibt es gute wirtschaftliche und soziale Gründe. China wuchs in den vergangenen 20 Jahren deutlich schneller als Indien und konnte damit auch mehr Menschen aus der Armut holen. Auch konnte das Reich der Mitte mehr ausländische Direktinvestitionen für sich gewinnen. Zudem glänzen Großstädte wie Peking und Schanghai mit modernen Fassaden, während große Teile der Bausubstanz etwa von Delhi, Mumbai oder Kalkutta zerfallen.Gleichwohl bleibt offen, ob China auch mittel- und langfristig Siegerin des Schönheitswettbewerbs bleibt. Das wird auch so manchem in China langsam klar. Denn Indien kämpft heute mit Nachteilen, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit später als Vorteile herausstellen dürften: etwa bei der Presse- und Redefreiheit. In China achtet die Obrigkeit trotz zuletzt erfolgter punktueller Lockerungen darauf, dass schlechte Nachrichten nur in wohl dosierten Mengen an die Öffentlichkeit gelangen.Zudem hat China mit Mandarin eine offizielle Sprache. In Indien hingegen sorgen schon einmal Hunderte von privaten Tages- und Wochenzeitungen und mehr als 500 Fernsehkanäle für eine oft unübersehbare Meinungsvielfalt. In den Augen ausländischer Beobachter erscheint das bisweilen als reines Chaos – nicht zuletzt auch, weil der politische Diskurs in nicht weniger als 122 Sprachen daherkommt. Das sind Gründe dafür, dass kaum jemand die Debatte voll versteht und es meist frustrierend lange dauert, bis ein politischer Konsensus gefunden wird.Dass vieles in Indien etwas länger dauert als in China, hat zudem kulturelle Gründe: Indien ist ein bunt zusammengewürfeltes Land, in dem Dutzende ethische Gruppen an ihrer Eigenart festhalten. All das ist ein fruchtbarer Boden für eine lebhafte Zivilgesellschaft, in der Linke, Feministen und Umweltschützer lautstark auf reale oder vermeintliche Probleme aufmerksam machen. Die schmutzige Wäsche, ob es nun um Korruption, sexuelle Gewalt gegen Frauen oder Umweltsünden geht, wird in aller Öffentlichkeit gewaschen. Das sorgt für schockierende Schlagzeilen. Gerade das trägt aber dazu bei, dass Indien heute einen vom Ausland meist übersehenen tiefgreifenden gesellschaftlichen Erneuerungsprozess durchläuft.In China hingegen, wo die konfuzianische Ethik dem Bürger seit alters her Respekt vor der Obrigkeit abverlangt, wird die Harmonie hochgehalten. Das ist – abgesehen von der staatlichen Zensur – ein Grund dafür, dass schwerwiegende soziale und politische Probleme, an denen es auch in China nicht mangelt, schamhaft versteckt werden. Gerade das steht aber einer rechtzeitigen Problemlösung entgegen. Manch ein ausländischer Journalist, Ökonom oder auch Aktienanalyst nimmt die so geschaffene Grabesruhe fälschlicherweise als Stabilität wahr.Ein solches Urteil wird oft umso leichter gefällt, als die Zentralregierung in Indien den wirtschaftlichen Reformprozess nur schmerzhaft langsam vorantreibt und ihn die Justiz und die Teilstaaten darüber hinaus oft noch blockieren. Das treibt auch Unternehmer aus westlichen Demokratien oft zur Verzweiflung, die im Gespräch nicht selten die rasanten Entscheidungswege im straff regierten China als lobendes Beispiel hervorheben.Doch Langsamkeit kann sich dann als Vorteil herausstellen, wenn damit Investitionen besser vor staatlicher Willkür geschützt sind. Vor allem werden so Riesenfehler langsamer gemacht und können damit auch noch leichter gestoppt werden.China hat seit der Machtergreifung der Kommunistischen Partei vor mittlerweile 65 Jahren wiederholt gefährliche politische Experimente erzwungen, die enormes Leid über das Land und seine Bürger gebracht haben. Dass sich jetzt der mit bemerkenswerter Geschwindigkeit vorangetriebene wirtschaftliche Öffnungsprozess offenbar als Erfolg erwiesen hat, heißt auch, dass die autoritäre Führung das Reich der Mitte ähnlich effizient ebenso gut in den Abgrund stoßen könnte. Indiens kleine Reformschritte hingegen sind ein guter Schutz gegen eine falsche Politik.