NOTIERT IN MOSKAU

Spezialoperation nach Putin-Art

Es war im Jahr 2004. Russlands Staatspräsident Wladimir Putin, damals gerade mal vier Jahre im Amt, wollte sich von den letzten "Altlasten" seines Vorgängers Boris Jelzin befreien und setzte dazu an, den langjährigen Ministerpräsidenten Michail...

Spezialoperation nach Putin-Art

Es war im Jahr 2004. Russlands Staatspräsident Wladimir Putin, damals gerade mal vier Jahre im Amt, wollte sich von den letzten “Altlasten” seines Vorgängers Boris Jelzin befreien und setzte dazu an, den langjährigen Ministerpräsidenten Michail Kasjanow zu entlassen. Dieser, fürwahr kein Engel, was Korruption betraf, hatte sich von der Putin-Mannschaft immerhin darin unterschieden, dass er mehr auf Privat- und Marktwirtschaft baute und einer liberaleren Weltsicht anhing. Wie auch immer, interessant war im Moment seiner Entlassung ein anderer Umstand: Die russischen Medien kolportierten in seinen letzten Tagen im Amt 14 Namen, die laut Experten als die wahrscheinlichsten Nachfolger infrage kämen. Am Ende wurde es keiner der Genannten. Putin erkor – damals noch zur Verblüffung der meisten Beobachter – einen Unbekannten: Michail Fradkow, seines Zeichens Vertreter Russlands bei der Europäischen Union in Brüssel. Fradkows Charakteristika: Er war kleiner als Putin und hatte keine politische Hausmacht in Russland. Später wurde er Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR.Warum die Erinnerung an Fradkow? Beim jüngsten Regierungswechsel vor zwei Wochen haben sich Putins Muster und Stil ein weiteres Mal bestätigt. In den wenigen Stunden zwischen der Absetzung von Ministerpräsident Dmitri Medwedjew – auch er körperlich auffälligerweise kleiner als Putin – und der Ernennung des Ex-Chefs der Steuerbehörde, Michail Mischustin, wurden wieder mindestens fünf Namen als die wahrscheinlichsten Nachfolger kolportiert. Oder wurden sie gar bewusst zur Verwirrung gestreut? Mischustin war natürlich nicht darunter.Putin liebt auch Jahrzehnte nach seiner Geheimdiensttätigkeit das Geheimnis. Damit geht auch seine zweite stilistische Eigenheit in Personalfragen einher: der Überraschungscoup oder die Spezialoperation, wie man im Russischen dazu sagt. Im Fall von Medwedjews Ablöse wurde im Land laut Umfragen zwar bereits vorher darüber spekuliert, dass 2020 eine Regierungsveränderung anstehe, weil die Wirtschaft nicht läuft und die Bevölkerung eine spektakuläre Machtdemonstration von Putin erwartete, die oft in Form einer Entlassung der Regierung daherkommt, die traditionell als Sündenbock für alle Fehlentwicklungen im Land herhalten muss, damit der Kremlchef trocken aus dem Wasser steigen kann. Aber der Zeitpunkt für den Coup war völlig offen und wurde eher später im Jahr vermutet. Insidern zufolge soll nicht einmal Medwedjew über den Zeitpunkt im Bilde gewesen sein, wie sein Terminkalender gezeigt habe.Zwei Markenzeichen also von Putin. Und weil Gott die Dreifaltigkeit liebt – so die russische Phrase für “aller guten Dinge sind drei” -, ist Putins Stil in der Kaderpolitik drittens davon geprägt, dass sie vorwiegend in Gestalt von Rochaden passiert. Niemand, der je Teil des Systems und vor allem loyal war, wird aus dem System geworfen oder fallen gelassen. Einige ziehen aus dem Kreml in die Regierung. Andere ziehen aus der Regierung zurück in den Kreml. So auch jetzt, da drei Minister zu Putins Beratern ernannt wurden, während sein oberster Wirtschaftsberater Andrej Belousow zum Ersten Vizepremier auserkoren wurde. Gut, ein paar Neue werden auch installiert, weil ja oben einige in Rente gehen. Aber der Rest bleibt und wird durch Postenwechsel in Bewegung gehalten, damit alle zufrieden sind und doch keiner sich irgendwo zu lange einnistet und vielleicht noch Zeit hat, eigene Seilschaften aufzubauen. Putin praktizierte die Rochade selbst, als er 2008 für vier Jahre die Regierungsspitze übernahm und Medwedjew die Quasiführung als Präsident überließ. Das hat die Elite fast zerrissen, weshalb das Experiment bis heute als gefährlich eingestuft wird.Was nun den Coup vom 15. Januar betrifft, auf den alsbald eine Verfassungsänderung folgen wird, deutet sich zumindest der vom Kremlchef erwünschte Effekt an: Putins Beliebtheitswerte, im Dezember 2019 auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren abgesackt, stiegen zwei Umfragen zufolge um zwei bis drei Prozentpunkte. Nicht der große Wurf, zugegeben, und überhaupt kein Vergleich mit Putins Sprung im Ansehen der Bevölkerung durch die Krim-Annexion 2014. Aber immerhin friedlich – und ohne Verletzung des Völkerrechts.