NOTIERT IN BRÜSSEL

Stricken am EU-Flickenteppich

In zehn Tagen, in der Woche ab dem 14. September, sollte die große Straßburg-Abstinenz des EU-Parlaments eigentlich ein Ende haben. Coronabedingt haben die Abgeordneten seit mittlerweile einem halben Jahr keine Plenartagungen mehr im Elsass...

Stricken am EU-Flickenteppich

In zehn Tagen, in der Woche ab dem 14. September, sollte die große Straßburg-Abstinenz des EU-Parlaments eigentlich ein Ende haben. Coronabedingt haben die Abgeordneten seit mittlerweile einem halben Jahr keine Plenartagungen mehr im Elsass abgehalten. Doch die September-Sitzung galt als wichtig und als idealer Wiedereinstiegstermin – nicht nur wegen der anstehenden Beratungen über den nächsten Haushaltsrahmen und den Wiederaufbaufonds, sondern auch wegen der ersten “Rede zur Lage der Union” von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. *Viele Hotels und Bahntickets sind schon gebucht. Doch unter den EU-Abgeordneten, die gerade erst aus der Sommerpause wieder zurückgekehrt sind, steigen mittlerweile die Zweifel, ob eine Reise angesichts der sich wieder verschärfenden Corona-Situation wirklich gerechtfertigt ist. Schließlich würde ein Tross von weit über 1 000 Abgeordneten und ihren Assistenten, Journalisten und Diplomaten aus der aktuellen Hochrisikoregion Brüssel in eine Stadt einfallen, die sich gerade in eine “orange Zone” verbessert hat. Die SPD-Europaabgeordneten haben die Straßburg-Woche bereits offiziell abgelehnt. “Aufgrund der steigenden Infektionszahlen bevorzugen wir, wenn die Plenartagungen bis auf Weiteres in Brüssel stattfänden und Sitzungen auch digital organisiert werden”, so der Vorsitzende der Gruppe, Jens Geier. *Hinzu kommt: Auch die EU-Politik hat in den vergangenen Tagen verstanden, dass Reisen innerhalb Europas gerade eine recht chaotische Sache ist, da nicht nur in jedem Land, sondern zum Teil auch innerhalb der Länder in jeder Region andere Regeln und Risikoeinstufungen gelten. Die Bundesregierung hat als aktuelle EU-Ratspräsidentschaft bereits einen Vorschlag vorgelegt, der koordinierte Maßnahmen und Reisebeschränkungen vorsieht. Demnach sollen Risikogebiete endlich auf Grundlage gemeinsamer Kriterien und Daten definiert werden und einheitliche Quarantäne- und Testvorgaben eingeführt werden. Am Mittwoch diskutierten die EU-Botschafter in Brüssel bereits über den Vorschlag. Auch die EU-Kommission hat diese Woche schon angekündigt, eigene Vorschläge für eine bessere Koordinierung vorzulegen. *EU-Parlamentspräsident David Sassoli sprach von “viel Verwirrung”, die gerade herrsche, und warnte vor “Chaos”. Eine klare Aussage zur Straßburg-Woche seines Hauses hatte er allerdings auch noch nicht parat. Die grüne Europaabgeordnete Jutta Paulus warnte in diesem Zusammenhang: Ein Flickenteppich aus Maßnahmen sei “gefährlich”. Wenn Menschen verunsichert seien, welche Regelungen wo gälten, und aus Angst vor negativen Konsequenzen keine vollständigen Angaben machten, könnten Kontaktpersonen nicht mehr lückenlos nachverfolgt werden. Und der CDU-Abgeordnete Peter Liese ergänzt: “Die Akzeptanz der Bevölkerung für die Maßnahmen leidet nicht nur durch Verschwörungstheorien, sondern auch dadurch, dass sowohl in Deutschland als auch zwischen den europäischen Ländern sehr viele verschiedene Kriterien gelten.” *Liese, der auch Arzt ist, hofft allerdings bereits darauf, dass die Gefahr durch das Coronavirus schon im nächsten Frühjahr deutlich abnimmt. Viele Projekte zur Erforschung eines Impfstoffes seien bereits sehr weit fortgeschritten, erklärte er in dieser Woche. Insgesamt sechs Projekte seien bereits in der dritten Phase der klinischen Prüfung. Noch im Herbst seien erste Zulassungsanträge möglich. Liese verweist darauf, dass die EU-Kommission schon Gespräche mit fünf Firmen abgeschlossen hat, um im Erfolgsfall sehr schnell große Mengen des Impfstoffs zu bekommen. “Wenn all dies zusammenkommt, kann die Pandemie im Laufe des nächsten Jahres ihren Schrecken verlieren.” Und dann könnte auch der monatliche Ausflug des Parlaments nach Straßburg wieder problemlos möglich sein.