Tarifbindung soll wieder steigen
Tarifbindung soll wieder steigen
Heil stellt Tariftreuegesetz vor – Wirtschaft äußert Kritik an erneutem staatlichen Eingriff in Tarifautonomie
Die Bundesregierung will die Tarifbindung stärken – und staatliche Aufträge künftig nur noch an Betriebe mit Tarifvertrag erteilen. Die Wirtschaftsverbände beklagen einen erneuten Eingriff in die Tarifautonomie. Die Gewerkschaften hoffen auf positive Effekte für die Privatwirtschaft.
ast Frankfurt
Die Bundesregierung will die Tarifbindung stärken. Das bekräftigten Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) anlässlich des 150. Jahrestags der Flächentarifverträge in Deutschland. Heil will Bundesaufträge ab einer bestimmten Größe künftig nur noch Betrieben mit Tarifvertrag erteilen. Das geht aus dem Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz hervor, den der Minister vorstellte. Während Gewerkschaften den Vorschlag begrüßen, murrt die Wirtschaft.
Deutschland steht schlecht da
150 Jahre ist es inzwischen her, dass der erste Flächentarifvertrag in Deutschland abgeschlossen wurde, 1873 in Leipzig für die deutschen Buchdrucker. Die Erfolgsgeschichte der Tarifbindung wurde Vorbild für viele andere Länder. Allerdings nimmt die Tarifbindung hierzulande seit Jahren ab (siehe Grafik). Im Jahr 2021 arbeiteten 43% der Beschäftigten in Betrieben mit einem Branchentarifvertrag. Das hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg ermittelt. Den IAB-Daten zufolge ist die Tarifbindung im Westen (45% der Beschäftigten) deutlich höher als im Osten (34%).
Hinzu kommen größere Unternehmen, die ihren Beschäftigten sogenannte Haustarifverträge anbieten – wie etwa der Autohersteller VW. Insgesamt sind 52% – also nur etwa jedes Zweite – unter dem Dach eines Tarifvertrags. Im Jahr 2000 waren es noch 68% der Beschäftigten. Deutschland liegt damit unter dem europäischen Richtwert von 80%. Bis 2024 hat Deutschland noch Zeit, Maßnahmen festzulegen, wie eine Tarifbindung von 80% erreicht werden soll. Andere Länder sind längst weiter: In Belgien, Österreich und Frankreich erhalten deutlich über 90% der Beschäftigten Tariflöhne bezahlt.
Zwar orientieren sich hierzulande viele Betriebe freiwillig am Vertragswerk ihrer jeweiligen Branche, doch der Bundesregierung ist das zu wenig. Denn Studien zeigen auch: Wer tarifgebunden arbeitet, arbeitet meist unter besseren Bedingungen und erhält mehr Lohn. Einer aktuellen Erhebung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge arbeiteten Tarifbeschäftigte im vergangenen Jahr pro Woche etwa 54 Minuten weniger und verdienten 11% mehr als Arbeitnehmer in Betrieben ohne Tarifbindung.
„Nicht erzwingen”
Der zwischen SPD, Grünen und FDP 2021 ausgehandelte Koalitionsvertrag enthält auch ein Kapitel zur Stärkung von Tarifautonomie und Tarifbindung. Ziel sind faire Löhne in Deutschland und die „nötige Lohnangleichung zwischen Ost und West“, heißt es dort. Eine erste Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels ist die Einführung der Tariftreue auf Bundesebene. Ab einem Auftrags- oder Vertragswert von 10.000 Euro ohne Umsatzsteuer soll das Gesetz künftig greifen.
Die Bundesregierung startete Ende 2022 ein Konsultationsverfahren. Die Gewerkschaften hoffen auf positive Auswirkungen auf die Privatwirtschaft, die Wirtschaftsverbände beklagen einen Eingriff in die Tarifautonomie. Stefan Körzell, Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), schreibt: „Wenn der Staat seiner Vorbildfunktion gerecht wird und die Bedeutung von Tarifverträgen unterstreicht, wird dies auch auf die Privatwirtschaft ausstrahlen.“ Körzell fordert regelmäßige Kontrollen und „bei Verstoß entsprechende Sanktionen“. Markus Fuß, Leiter des politischen Verbindungsbüros der Gewerkschaft Verdi, begrüßt das Vorhaben: „Die Geltungskraft von Tarifverträgen und damit das gesamte Tarifvertragssystem würden gestärkt, da vorhandene Tarifstandards in den betroffenen Branchen abgesichert wären“, und das wiederum führe zu einer Stärkung der Tarifbindung.
Ganz anders klingt das Echo aus der Wirtschaft: Jens Dirk Wohlfeil, Geschäftsführer der Gesamtmetall, hält eine Tariftreueregel für nicht geeignet, „das erklärte Ziel der Stärkung der Tarifbindung bzw. der Tarifautonomie zu erreichen“. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Wohlfeil. Der Maschinenbauverband VDMA schreibt: „Wir sind der festen Überzeugung, dass die Politik Tarifbindung nicht erzwingen darf – auch nicht durch Tariftreueregelungen.“