Unser Kessel soll schöner werden
100 Jahre nachdem 1927 die Weißenhofsiedlung unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe als Bauausstellung des Deutschen Werkbunds entstanden ist, will die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg “ganz neue Antworten finden auf die Frage: Wie leben, wohnen, arbeiten wir im digitalen und globalen Zeitalter?” Da die derzeitige Struktur der Stadt nicht die Antwort sein kann, gibt es bis zur Internationalen Bauausstellung (IBA) 2027 Stadtregion Stuttgart also noch viel zu tun.Die Frage, welches der geplanten fünf bis sieben Hauptprojekte bis dahin als Vorzeigequartier gebaut werden soll, beantwortet sich fast von selbst. Es sind nicht die Gleisflächen hinter dem Hauptbahnhof, auf denen ein Wohn- und Arbeitsquartier geplant ist. Wegen der jahrelangen Verzögerungen bei Stuttgart 21 wäre die Fläche nicht rechtzeitig bebaubar. Stattdessen soll die frühere Zentrale des IT-Konzerns IBM – die vom Architekten Egon Eiermann Ende der 60er-Jahre geplant und umgesetzt wurde und den Beinamen Eiermann-Areal trägt – als Modell-Quartier am Rande der Industriestadt ins Rennen gehen.Das Areal liegt direkt neben dem Autobahnkreuz Stuttgart, auf dem zu den Hauptverkehrszeiten üblicherweise wenig bis gar nichts vorangeht. Die Anwohner von Stuttgart-Vaihingen, zu dem Stadtteil gehört das Gebiet, waren zunächst wenig begeistert von den Plänen. Ein Bauprojekt, das auf die drei denkmalgeschützten Eiermann-Bürogebäude Rücksicht nehmen soll: Das erinnert stark an das von Paul Bonatz gebaute Bahnhofsgebäude. Und die Organisation von Stuttgart 21 ist für Befürworter wie Gegner nach wie vor indiskutabel.Vor allem treibt die Anwohner aber eine Sorge um: dass der Verkehrswahnsinn aus dem Stuttgarter Kessel endgültig nach Vaihingen kommt. Das liegt nicht nur an dem auf dem Campus geplanten Wohn- und Arbeitsquartier (Projektname Garden Campus), das ab 2020 gebaut werden soll. In Vaihingen entstehen in den nächsten Jahren zwei weitere Großprojekte: Im Mai 2017 erfolgte der Spatenstich für einen neuen Bürokomplex von Daimler, in den ab 2020 bis zu 4 500 Konzernmitarbeiter ziehen sollen. Die Allianz will ebenfalls in Vaihingen ein Hochhaus für ihre 4 500 Mitarbeiter bauen, die derzeit in der Innenstadt verteilt sitzen. Es soll 2022 bezugsfertig sein. Dass mit einem kleinen Verkehrschaos am Rande eines großen Verkehrschaos mit einer IBA 2027 keine städtebaulichen Maßstäbe gesetzt werden können, das ist der Stadt und dem Schweizer Immobilieninvestor SSN Group, der das Areal im Frühjahr 2017 übernommen hat, klar.Die Stadt muss sich darüber Gedanken machen, wie Stuttgart künftig aussehen soll um den Mangel an bezahlbarem Wohnraum oder das immense Verkehrsaufkommen einzudämmen. Das hat sich aber seit Jahrzehnten noch jede Landespolitik auf die Flagge geschrieben. Mit überschaubarem Erfolg. Oder, wie es Günter Sabow, Verkehrsexperte und Vorsitzender der Wirtschafts- und Industrievereinigung (WIV) Stuttgart jüngst bei einer Veranstaltung zum Thema Gewerbegebiet Vaihingen sagte: “Uns fällt hier der wirtschaftliche Erfolg, um den andere Regionen kämpfen, auf die Füße, aber wir bekommen nicht einmal das Verkehrsproblem gelöst.” Das, was bislang über die Pläne für das Areal öffentlich ist, unterscheidet sich allerdings deutlich von den bisherigen halbherzigen Initiativen. Bei der Planung wird etwa die Bevölkerung einbezogen. Hier haben alle Seiten offenbar vom kommunikativen Chaos um Stuttgart 21 gelernt. Zudem soll der Gewerbeanteil – und damit auch der Pendlerverkehr – in dem Quartier gering gehalten werden. 3 000 Menschen sollen künftig auf dem Campus wohnen und 2 000 Menschen arbeiten können. Für sie soll ein eigenes Mobilitätsangebot entstehen, das den Individualverkehr überflüssig macht. “Im Osten können Besucher und Bewohner bei Bedarf ihr Auto parken und auf Fahrräder, E-Bikes und E-Roller wechseln”, heißt es bei der SSN Group. Es gibt zudem Überlegungen für die Anbindung des Quartiers durch eine Seilbahn. Das wäre ein wirklich neuer Ansatz, der ein Ziel der Stadt mit der IBA 2017 wirklich näher bringen könnte: die Region Stuttgart “zur Modellregion für industriell geprägte Stadtregionen” zu machen.