NOTIERT IN MOSKAU

Verderbt die Kinder nicht mit Märchen!

Ein ausgewiesener Russlandkenner beliebte zu fortgeschrittener Stunde, wenn er sich wieder einmal in der Erklärung des Landes versuchte, die Psyche in der Sprache zu entdecken. In ihr, der russischen Sprache nämlich, so dozierte er, habe man nur ein...

Verderbt die Kinder nicht mit Märchen!

Ein ausgewiesener Russlandkenner beliebte zu fortgeschrittener Stunde, wenn er sich wieder einmal in der Erklärung des Landes versuchte, die Psyche in der Sprache zu entdecken. In ihr, der russischen Sprache nämlich, so dozierte er, habe man nur ein Wort, das je nach Situation “Entscheidung” und “Lösung” heiße. Wie auch immer es zu diesem Homonym gekommen sein möge, es sei seiner Überzeugung nach folgenschwer für das Land: Und zwar deshalb, weil die Russen, wenn sie eine Entscheidung träfen, meinten, die Angelegenheit sei in diesem Augenblick auch schon gelöst.Kürzlich hat Sergej Schwezow, Vizepräsident der russischen Zentralbank, solch einen interessanten Erklärungsversuch gestartet. Und zwar für die mangelnde Bildung seiner Landsleute in Finanzfragen. Die Wissensdefizite würden, so Schwezow, von den russischen Märchen herrühren. Und zwar von denen, die von Idioten, Faulenzern und Nichtsnutzen handelten. Diese Märchen würden bei den Menschen den Glauben an die Möglichkeit herausbilden, man könne ohne größere Anstrengung und Arbeit reich werden, sagte Schwezow im Rahmen einer Sitzung des Parlamentsausschusses zum Finanzmarkt.”Wir erzählen unseren Kindern vom goldenen Fisch, vom Hecht”, so Schwezow: “Und schauen Sie: Der älteste Bruder arbeitet – und ist ein Idiot. Der mittlere Bruder arbeitet – und ist auch ein Idiot. Der jüngste aber hockt am Ofen und fängt dann später einen Fisch – und siehe da, bei ihm läuft finanziell alles bestens!” Das Problem lautet Schwezow zufolge, dass sich diese Einstellung zur Arbeit beizeiten auch in das Erwachsenenleben einschleicht. Man müsse aufhören, “den Kindern die Gratismentalität beizubringen”, man müsse den Inhalt von Märchen ändern und sich aktiv um eine höhere Finanzbildung kümmern.Wenn Russen ihre eigene Bevölkerung und Mentalität durchleuchten, sind sie meist unerbittlicher, als wenn das jemand von außen tut, was ohnehin nicht geduldet wird. Pjotr Awen etwa, Aufsichtsratschef sowie Miteigentümer der größten russischen Privatbank Alfa-Bank, nahm sich ebenfalls das Bildungsthema vor und zog vom Leder. Die Tatsache, dass die Russen mehr Geld in die Kirche trügen als in Bildungsprojekte, sei “nicht sehr produktiv”. Niemand wolle Geld dafür hergeben, schimpfte er. Für sein Fundraising für die Russian Economic School, die einzige im Land, die es mit führenden westlichen Universitäten aufnehmen könne, habe er gerade einmal 30 Mill. Dollar aufgetrieben.Die beiden haben natürlich recht. Das Vierteljahrhundert Marktwirtschaft in seinen russlandspezifischen Facetten war nicht ausreichend, um den Glauben an ein Wunder als Lebensrettung im Alltag zu beseitigen. Dies umso mehr, als in Russland die historische Periode der Aufklärung, in der das Individuum zu seinem Recht über das Kollektiv und zur Eigenverantwortung kam, nicht stattgefunden hat. Dass die Russen nichts von Finanzen und Wirtschaft verstehen, stimmt so aber auch nicht. In Wahrheit haben sie deren Gesetze in den 1990er Jahren in voller Härte und existenziell erleben und erlernen müssen. Das Fatale ist, dass diese Zeit als ungerecht erlebt wurde, weil sie von Armut gekennzeichnet war, während wenige Wendige den Grundstein für großen Reichtum, vor allem aber für Monopole geschaffen haben. All das hat den Glauben an den Staat wiedererstehen lassen, der alles richten soll, wie er es schon zu Sowjetzeiten gerichtet hat. Dies trotz der Tatsache, dass der Staat es war, der die Privatisierung nach der Sowjetzeit verpfuscht hat.Dabei – das zeigt eine Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Levada Center – sind die Generationen, die die neunziger Jahre durchlebt haben, der Marktwirtschaft gegenüber gar nicht negativ eingestellt. Einzig für sich selbst sehen sie die Bedingungen etwa für einen Wechsel in die Selbständigkeit nicht gegeben – was übrigens dem paternalistisch gesinnten Staatsapparat sehr recht ist. Für ihre Kinder und Enkel aber wünschen sich 60 % der Befragten, dass sie eine Karriere in der Privatwirtschaft machen und unter besseren Bedingungen dann selbständig für sich arbeiten. Trotz der Märchen und der Kirche, die lieber Wunder propagieren. Kein Märchen!