Vítor Constâncio 75
jw – Während seiner Zeit als EZB-Vizepräsident galt Vítor Constâncio – zumindest auf den Pressekonferenzen – oft als der “stille Mann neben Mario Draghi”. Bei öffentlichen Stellungnahmen zur Geldpolitik hielt er sich, wie es sich für einen guten Notenbanker gehört, eher bedeckt und wählte seine Aussagen stets mit Bedacht. Kritisch und meinungsstark zeigte er sich eher, wenn es um sein Kernthema, die Finanzmarktstabilität, ging. Unvergessen bleibt sein Schlagabtausch mit BIZ-Chefvolkswirt Claudio Borio am Rande der IWF-Tagung im Oktober 2014 in Washington – als es um die Frage der Verantwortung der Geldpolitik für die Finanzmarktstabilität ging. Makroprudenzielle Regeln wie Basel III zu verbessern und auszubauen war ihm stets eine Herzensangelegenheit.Nun, fünf Monate nach seinem Ausscheiden als EZB-Vize, zeigte sich der Ex-Notenbanker während eines Vortrags an der London School of Economics (LSE) erneut überraschend kritisch, ja sogar selbstkritisch. Er reiht sich damit ein in die Reihe von Wirtschaftsfunktionären wie Larry Summers oder Mervyn King, die nach dem Ausscheiden aus ihren Ämtern ebenfalls kritischere Töne in der Öffentlichkeit anschlugen.Das Thema von Constâncios Vortrag lautete “Reform der Eurozone”. Der Portugiese ging mit Europas Staats- und Regierungschefs hart in Gericht: “Anscheinend gibt es momentan keinen politischen Willen, irgendetwas Signifikantes zu tun”, kritisierte er. Der Druck auf die Politik, Reformen voranzutreiben sei im Moment nicht stark genug, weil sich die Lage in der Eurozone verbessert habe. Dies sei allerdings ein “falsches Gefühl der Sicherheit”. Um die Eurozone krisenfester zu machen, forderte Constâncio konkretere und schnellere Schritte wie die Vollendung der Bankenunion und die Schaffung einer europäischen Stabilitätsfunktion und Kapitalmarktunion.Auch gab der Ökonom sich selbstkritisch, mit einer Liste eigener “Fehler”. Rückblickend hätte er manche Dinge, wie die Forderung nach extremer Haushaltskonsolidierung auf dem Höhepunkt der Krise oder die verspätete Einführung des Anleihekaufprogramms (QE) anders gemacht. Die schwerwiegendsten Fehler waren seiner Meinung nach jedoch die zwei Zinserhöhungen 2008 und 2011 – diese seien aber schnell korrigiert worden.Constâncio trat seine Stelle als EZB-Direktor im Juni 2010 an – kurz nach der Eskalation der Griechenland- und Euro-Schuldenkrise im Mai 2010. Er hatte als Vizepräsident großen Einfluss auf Entscheidungen wie die Einführung des OMT- und QE-Programms genommen. Auch Notenbanker, die seinen geldpolitischen Kurs nicht teilten, schätzen seine Fachkenntnis und Qualität als Ökonom. Im EZB-Direktorium war Constâncio vor allem für die Themen makroprudenzielle Politik und Finanzstabilität zuständig und war 2013/2014 stark in den Aufbau der Bankenaufsicht SSM eingebunden.Vor seiner Zeit im EZB-Direktorium saß der Portugiese bereits lange Zeit im EZB-Rat. Er war zweimal, von 1985 bis 1986 und von 2000 bis 2009 Präsident der Banco de Portugal, der Zentralbank seines Heimatlandes. Bevor er eine Karriere als Notenbanker einschlug, hatte Constâncio sein Leben der Politik gewidmet. Er war Abgeordneter für die sozialistische Partei (PS) im portugiesischen Parlament, Finanzminister und kandidierte 1987 sogar für das Amt des Premierministers – auch damals war er bekannt für seine meinungsstarken Aussagen. Es scheint so, als wäre Constâncio nach seinem Abschied als Notenbanker zu dieser Meinungsstärke zurückgekehrt – pünktlich zu seinem neuen Lebensabschnitt. Am heutigen Freitag feiert Constâncio seinen 75. Geburtstag.