NOTIERT IN MOSKAU

Vom Leben zum Überleben

Wer dieses Jahr Moskau besucht und weiß, wie es noch vor zwei Jahren aussah, dem springt vor allem eines ins Auge: Die legendären, stundenlangen Staus sind großteils verschwunden. Das liegt nicht an den neuen Radwegen, die entlang der mitunter...

Vom Leben zum Überleben

Wer dieses Jahr Moskau besucht und weiß, wie es noch vor zwei Jahren aussah, dem springt vor allem eines ins Auge: Die legendären, stundenlangen Staus sind großteils verschwunden. Das liegt nicht an den neuen Radwegen, die entlang der mitunter sechsspurigen Chausseen und in Russland “Prospekte” genannten Avenuen entstanden sind und nun allmählich auch genutzt werden. Das geringere Verkehrsaufkommen hat handfeste wirtschaftliche Gründe: Das Land steckt tief in der Rezession.In den ersten acht Monaten 2015 ist das Bruttoinlandsprodukt um 3,9 % eingebrochen, teilte kürzlich Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew mit. Die Zentralbank prognostiziert für das Gesamtjahr ein Minus von 3,9 bis 4,4 %. Das Fatale: Russland muss sich – vor allem wegen des zumindest mittelfristig niedrig bleibenden Ölpreises, aber auch aufgrund der westlichen Sanktionen – auf eine lange Durststrecke einstellen. Oder um es mit den Worten von Zentralbank-Chefin Elwira Nabiullina zu sagen: Die Anpassung an die neuen Bedingungen braucht eben Zeit.Die Bevölkerung freilich, die aus historischer Erfahrung immer mit dem Schlimmsten rechnet, nimmt ihre Anpassungen längst vor. Nicht nur das erwähnte Mobilitätsverhalten haben die Leute grundlegend verändert, indem etwa Familien auf Zweitautos verzichten. Auch beim Konsum ist längst sichtbar, dass nach vielen fetten Jahren nun die mageren angebrochen sind.Das liegt zum Teil an der verflogenen Euphorie über die Annexion der Krim und der zurückgekehrten Ungewissheit hinsichtlich der Zukunft – so glauben laut Meinungsforschungsinstitut VCIOM 40 %, das Schlimmste stehe noch bevor, während nur 21 % denken, man habe es schon hinter sich. Zu einem Großteil liegt es aber an der Tatsache, dass sich die Krise längst im Geldbeutel bemerkbar macht. Zum ersten Mal seit 1999 nämlich sind 2014 die real verfügbaren Einkommen zurückgegangen. Das Phänomen hat sich seither verstärkt. In den ersten acht Monaten 2015 lagen sie um 3,1 % unter dem Vorjahr. Zwar steigt die Arbeitslosigkeit – wegen des demografischen Knicks der geburtenschwachen neunziger Jahre und der abgereisten Gastarbeiter – kaum an. Aber die Zahl der Vollzeitbeschäftigten geht merklich zurück. Und die Inflation frisst die Kaufkraft.Die einst für ihren üppigen Konsum berühmten Russen sind plötzlich gezwungen zu sparen. Das sieht man etwa an den – infolge der drastischen Rubelabwertung – stark eingebrochenen Auslandsreisen. Und das spürt vor allem der Handel, weshalb manche Handelskette die Expansionspläne in Russland zurückgefahren hat.Aber das Sparen beschränkt sich nicht auf Kleidung oder Küchengeräte. Es hat auch den Lebensmittelbereich erfasst. Ganze 69 % gaben jüngst in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Center an, in den vergangenen zwei bis drei Monaten billigere Lebensmittel und nur höchst notwendige Dinge gekauft zu haben.Das zeugt immerhin noch von Spielraum beim Verzicht. Doch die Zahl derer, die diesen Spielraum nicht mehr haben, steigt rapide. Allein im ersten Halbjahr 2015 sind weitere 2,8 Millionen Russen unter die Armutsgrenze gerutscht, so die Daten des staatlichen Statistikamtes Rosstat: Das bedeutet einen Zuwachs um 2 Prozentpunkte auf 15,1 % der Bevölkerung. Demnach leben 21,7 Millionen Russen, sprich jeder siebente, unter der Armutsgrenze. Tendenz weiter steigend, so die Weltbank. Dies, obwohl das offizielle Existenzminimum in einem Jahr um ein Fünftel auf 10 017 Rubel (136 Euro) angehoben wurde.Die Behörden wollen daher Lebensmittelkarten ausgeben. An die 15 bis 16 Millionen Russen sollen solche Karten erhalten, hieß es aus dem Handelsministerium. Kostenpunkt: 240 Mrd. Rubel (3,3 Mrd. Euro). Die Behörden wollen damit gleich zwei Dinge erreichen: Neben der Unterstützung der Armen soll die lang vernachlässigte Landwirtschaft stimuliert werden. Das wollte man freilich schon mit dem Importembargo für westliche Lebensmittel erreichen. Der Effekt: Die Inflation wurde angeheizt, was schließlich zur Armut geführt hat, die jetzt mit Lebensmittelkarten behoben werden soll, die wiederum die Landwirtschaft unterstützen sollen. Kein auswegloser, aber doch ein Teufelskreis.