NOTIERT IN MOSKAU

Wenn der Oberbefehlshaber das Sagen hat

Die Geschwindigkeit und Intensität, mit der der Abschuss der russischen Militärmaschine durch die Türkei zum dominanten Thema in Russlands innen- sowie außenpolitischer Agenda geworden ist, sucht ihresgleichen. Selbst der Terroranschlag auf die...

Wenn der Oberbefehlshaber das Sagen hat

Die Geschwindigkeit und Intensität, mit der der Abschuss der russischen Militärmaschine durch die Türkei zum dominanten Thema in Russlands innen- sowie außenpolitischer Agenda geworden ist, sucht ihresgleichen. Selbst der Terroranschlag auf die russische Passagiermaschine Ende Oktober mit 224 Toten war im Vergleich dazu eine Randnotiz. Kremlchef Wladimir Putin kann sich vor Zorn kaum noch einkriegen. Auch seine – mittlerweile zwölfte – Rede an die Nation vorigen Donnerstag war hauptsächlich von Attacken gegen die Türkei geprägt, weshalb die russische Wirtschaftszeitung “Wedomosti” sie in “Rede an den türkischen Präsidenten” umtitulierte. Das verräterische Regime in Ankara werde diesen Schritt noch “mehr als einmal” bereuen, sagte Putin: Wer glaube, dass sich die Maßnahmen gegen die Türkei auf Handelssanktionen beschränkten, irre sich.So schnell war der Westen mit seinen Sanktionen nicht zur Stelle gewesen, als Putin im Vorjahr nach der Annexion der Krim auch noch in der Ostukraine separatistische Bestrebungen zu unterstützen begann. Und mittlerweile bewegt sich Russland mit Siebenmeilenstiefeln in die völlige Isolation. Zu den EU-Sanktionen kommt das russische Importembargo auf Agrarprodukte. Mit der Ukraine besteht ein Handelskrieg. Und mit der Türkei werden die über zehn Jahre mühsam aufgebauten Wirtschaftsbeziehungen in Windeseile zerschlagen. Ab 1. Januar werden türkische Firmen bei Auftragsvergaben in Russland benachteiligt, türkische Staatsbürger sollen in russischen Firmen nicht mehr beschäftigt werden. Charterflüge ins Land am Bosporus werden untersagt, nachdem der Kreml seinen Bürgern schon zuvor von Reisen dorthin abgeraten hatte. Gewisse Gemüse- und Obstsorten dürfen nicht mehr eingeführt werden.Weil aber etwa ein Fünftel des importierten Obstes und Gemüses aus der Türkei stammt, dürfte die 2015 aufgrund der westlichen Sanktionen auf etwa 15 % nach oben geschnellte Inflation um weitere 0,4 Punkte steigen, prophezeit die russische Zentralbank. Die Ökonomen der russischen Alfa-Bank befürchten gar zusätzliche 1,5 bis 2 Punkte. Und längst geht bei Russlands Firmen die Furcht um, dass auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine unübliche und daher besonders auffällige Contenance beizeiten verlieren und Gegensanktionen verhängen wird.Trotz oder gerade wegen dieser Überbetonung der Türkei war Putins Rede an die Nation vor allem eines: inhaltlich blutleer und dürftig. “Wedomosti” weist in einem Kommentar sehr überzeugend darauf hin, dass die Anzahl der Ideen bei den Redenschreibern im Kreml kontinuierlich sinke. Und zwar weil die Innenpolitik ohnehin stagniere und es im Moment darum gehe, das Land zu mobilisieren. Das aber gelinge am besten mit der Außenpolitik, die zudem noch zu Putins Hauptinteresse geworden sei. Sie aber sei sehr situativ und ohne strategischen Plan, weshalb in der gesamten Rede am Donnerstag kein einziges Mal die Ukraine thematisiert worden sei, während sie im Vorjahr noch dominiert habe.Man kann dies auch als Fortschritt deuten. Wie überhaupt zunehmend interessant wird, was Putin in den Reden nicht erwähnt. Kaum ein Wort zur Innenpolitik, was heißt, dass Spielregeln bis zu den Parlamentswahlen 2016 wohl nicht geändert werden. Wenig Handfestes allerdings auch in Wirtschaftsfragen, obwohl sie in der Bevölkerung aufgrund hoher Inflation und sinkender Budgetausgaben immer mehr gestellt werden.Aber in Zeiten des Krieges mutiere der Präsident eben mehr zum Oberbefehlshaber über die Streitkräfte, verweist die Zeitung “Moskovski Komsomolez” auf einen wichtigen Umstand: Als solcher brauche er sich nicht mit den heikelsten und lästigsten Problemen, vor denen der Staat steht, zu befassen.Was passiert mit dem Defizit im Pensionsfonds? Was geschieht, wenn das Polster im Stabilitätsfonds nächstes Jahr aufgebraucht ist? Woher sollen die dringend nötigen Investitionen kommen? Geschweige denn Innovation? Und wann wird man mit den dringlichsten unter den Reformen Ernst machen? Diese und andere Fragen sind laut “Moskovski Komsomolez” die Sache von Friedenspräsidenten.