NOTIERT IN MOSKAU

Westliche Zustände - ein Horror für die Russen

Es war der Kunsttheoretiker Boris Groys, der als zentrales Moment seiner kulturologischen Auseinandersetzung Russland und den Westen einander gegenüberstellte und als Gegenpole durchkonzipierte. Die Vorstellung dahinter: Russland sei Europa...

Westliche Zustände - ein Horror für die Russen

Es war der Kunsttheoretiker Boris Groys, der als zentrales Moment seiner kulturologischen Auseinandersetzung Russland und den Westen einander gegenüberstellte und als Gegenpole durchkonzipierte. Die Vorstellung dahinter: Russland sei Europa gegenüber das genuin und absolut Andere. Der Kontrast gewissermaßen. Ihm gibt Groys viele verschiedene Namen. Am berühmtesten geworden ist freilich das Kontrastbild vom Bewussten und dem Unterbewussten.Was Groys damit meint? Dem westlichen Bewusstsein steht das russische Unterbewusstsein gegenüber. Russland ist demnach nichts anderes als das Unterbewusstsein des Westens – also der Ort, wohin alle westlichen Albträume verdrängt werden und furchteinflößend lauern. Ob wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch oder sozial – am besten nicht zu genau hinsehen, denn tief im Unbewussten lauert, was man im entwickelten und etablierten Westen mit seinen angeblich so universellen Standards nicht sehen will, geschweige denn haben möchte. Der unbewusste, russische Raum erzeugt Adrenalin. Und darin ist er trotz allem Horror eben auch interessant.Obwohl diese Konzeption einige Jahrzehnte alt ist, hält sie in gewissem Ausmaß noch an. Und dennoch ist inzwischen einiges passiert, das die Theorie relativiert, ja sogar auf den Kopf stellt. In der allerjüngsten Geschichte nämlich häufen sich die Fälle, wo der Westen zum Unterbewusstsein Russlands wird. Die Schrecken lagern plötzlich nicht mehr so sehr und nicht mehr allein im Osten – aus russischer Sicht schlummern sie im Westen.Der Spieß hat sich im vergangenen Jahrzehnt umgedreht. Begonnen hat es im Rahmen der Olympischen Winterspiele in Sotschi, vor denen der Westen nicht nur die Einhaltung der Menschenrechte generell anmahnte, sondern manche Aktivisten Russland am Beispiel Europas besonders die Rechte der sexuell nicht traditionell orientierten LGBT-Gruppe (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender) ans Herz legten. Die russischen Machthaber nutzten den aufgelegten Ball in der konservativen Gesellschaft für sich und malten ein Bild vom sogenannten “Gayropa” an die Wand – also einem Europa, das man früher als nachahmenswert erachtete, durch seine sexuelle Teilumorientierung, wie man es darstellte, aber als Albtraum.Gerade mal ein paar Jahre gingen ins Land, da stockte den Russen angesichts der Flüchtlingswelle in Europa abermals der Atem. Der einst so geachtete Westen werde überrannt, so die vorherrschende Sicht. Und überhaupt sei Europa so schwach, dass es angesichts dieses neuen Phänomens hilflos dastehe, hieß es. Fast so, als hätte man Europa gern geholfen, am liebsten aber wollte man den Albtraum gar nicht sehen. De facto war er ja nur die Folge eines anderen Albtraums – nämlich des vom Westen geförderten und begrüßten Machtwechsels im arabischen Raum von Ägypten über Libyen bis nach Syrien.Und nun in Gestalt des Coronavirus der nächste Horror, der zwar ursprünglich nicht aus Europa, sondern aus China kam, sich aber im Westen auch stark ausbreite, weil man möglicherweise zu wenig radikal vorgehe. Zumindest weniger radikal als Russland. Die längste Zeit hatte Russland keinen einzigen bestätigten Fall zu melden – woran die Russen selbst übrigens angesichts des Massentourismus aus China nicht so recht glaubten. Nun aber haben sie radikale Maßnahmen ergriffen, um die Verbreitung einzudämmen. Am Flughafen stehen Beamte in spezieller Schutzkleidung. Ankömmlinge aus Deutschland und einigen anderen Staaten werden für zwei Wochen in die “freiwillige Selbstisolation” gebeten. Was das praktisch bedeutet, ist noch nicht so klar. Klar ist dafür, dass der Albtraum wieder aus dem Ausland kommt.Vor diesem Hintergrund wird Russland zum Ort des hell leuchtenden Bewusstseins, sprich auch zum “sicheren Hafen” in einer aus den Fugen geratenen und wenig prognostizierbaren Welt. Wladimir Putins starke Auftritte nähren diesen Glauben an die Prognostizierbarkeit sehr geschickt. Er nennt es Stabilität. Und diese sei wichtiger als das demokratische Prinzip des Machtwechsels. Andernfalls passiert in Russland am Ende noch ein Albtraum, wie er zuletzt den Westen kennzeichnete. Den letzten Satz sagte Putin so nicht. Aber gedacht haben könnte er ihn.