Im InterviewKarsten Junius

"Zinsgipfel gleicht eher dem Tafelberg als dem Matterhorn"

In dieser Woche lädt die US-Notenbank Fed zu ihrem jährlichen Stelldichein in Jackson Hole ein. Marktteilnehmer und Ökonomen erwarten sich Signale über den weiteren geldpolitischen Kurs weltweit. Im Interview schätzt Karsten Junius, Chefvolkswirt der Schweizer Bank Safra Sarasin, die Lage ein.

"Zinsgipfel gleicht eher dem Tafelberg als dem Matterhorn"

Herr Junius, die wichtigsten Zentralbanken befinden sich in der Sommerpause. Trotzdem hält ihr mögliches weiteres Handeln nicht zuletzt die globalen Finanzmärkte in ihrem Bann, und nächste Woche steigt das jährliche und wichtige Fed-Symposium in Jackson Hole. Kommen nach der Sommerpause vor allem bei der Fed und der EZB weitere Zinserhöhungen oder haben sie den Zinsgipfel erreicht?

Die Finanzmärkte sind zu Recht nervös. Schließlich gingen vom Jackson-Hole-Symposium oft wichtige Signale aus. Im vergangenen Jahr war es der Auftakt zu überraschend kräftigen Zinserhöhungen im Herbst mit mehreren 75-Basispunkt-Schritten seitens der Fed und der EZB. Das Thema der diesjährigen Konferenz sind Strukturveränderungen in der Weltwirtschaft. Ich könnte mir gut vorstellen, dass dabei diskutiert wird, ob die Deglobalisierung, der demografische Wandel und der Kampf gegen Klimaveränderungen zu permanent höherem Inflationsdruck führen. Manche Ökonomen argumentieren, dass dies für höhere Inflationsziele spreche. Ich gehöre nicht dazu. Aber würde in Jackson Hole so argumentiert, wären erneute starke Kursverluste an den Anleihemärkten unvermeidlich. Ich erwarte eher die Botschaft, dass aufgrund von strukturellem Inflationsdruck die Geldpolitik noch länger restriktiv bleiben muss, dass der Zinsgipfel also eher dem Tafelberg als dem Matterhorn gleicht.

In den USA haben zuletzt vor allem überraschend robuste Konjunkturdaten Spekulationen befeuert, dass die Fed ihren Leitzins doch noch etwas weiter anhebt. Was ist Ihre Erwartung? Und was sollte die Fed aus Ihrer Sicht nun tun?

Die US-Konjunktur ist tatsächlich erstaunlich robust. Dies liegt auch daran, dass der Immobilienmarkt bislang nur wenig auf die höheren Zinsen reagiert hat, da sich viele Haushalte niedrige Zinsniveaus mittels langer Kreditlaufzeiten gesichert haben. Die restriktive Geldpolitik wirkt daher mit einer längeren Verzögerung als in früheren Zinszyklen. Für die Fed heißt es vor allem, Geduld zu haben. Allerdings muss sie auch auf die aktuelle Konjunkturdynamik reagieren. Der vielbeachtete Nowcast der Fed Atlanta zeigt für das dritte Quartal nun ein BIP-Wachstum von annualisiert 5,8% an. Das rechtfertigt meiner Einschätzung nach eine letzte Zinserhöhung.

Die Inflation in den USA ist im Juli sogar wieder leicht auf 3,2% gestiegen, nach zuvor 3,0%. Wie schwer wird der Rückgang auf tatsächlich 2,0%, und ist das ohne einen stärkeren Wachstumsrückgang und eine merklich höhere Arbeitslosigkeit überhaupt möglich?

Es ist vor allem die Kerninflation, die mit zuletzt 4,7% sehr hoch bleibt und zum Jahresende nur leicht unter 4% fallen dürfte. Von 2% sind wir noch sehr weit entfernt, da der robuste Arbeitsmarkt zu stark wachsenden Haushaltseinkommen und einer kräftigen Konsumnachfrage führt. Gleichzeitig erleben wir weltweit eine bislang nicht gekannte Arbeitskräfteknappheit, die die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stärken und den Lohndruck hoch halten dürfte. Ohne eine merklich höhere Arbeitslosenquote wird das 2-Prozent-Ziel der Fed daher kaum zu erreichen sein. Dies war es übrigens auch in früheren Konjunkturzyklen nicht.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich für September explizit alle Optionen offengehalten. Kann sie angesichts einer Inflation von 5,3% und einer Kerninflation (ohne Energie und Lebensmittel) von 5,5% überhaut schon mit den Zinserhöhungen aufhören? Was wäre Ihre Empfehlung?

Das Kreditwachstum hat sich im Euroraum bereits abgeschwächt, und die Bankenumfrage der EZB deutet auf einen weiteren Rückgang hin. Für das dritte Quartal erwarten wir eine leichte Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts, so dass die EZB die Nachfrage nicht weiter dämpfen müsste. Sorge bereitet mir allerdings, dass eine Reihe von Umfragen und Finanzmarktpreisen mittelfristig erhöhte Inflationserwartungen anzeigen. Angesichts des Arbeitskräftemangels könnte dies trotz schlechter Konjunktur zu Lohn- und Inflationsdruck führen. Die Geldpolitik muss in dieser Situation eher auf die mittelfristigen Erwartungen als auf die aktuelle Konjunktur zielen, auch wenn sich das nie ganz trennen lässt. Sie könnte dies am besten tun, indem sie im September eine Zinspause zusammen mit einer Neigung zu weiteren Zinserhöhungen kommuniziert. Wenn die Inflationserwartungen im vierten Quartal dann nicht ausreichend fallen, sollte sie die Leitzinsen erneut erhöhen.

Kritiker warnen vor einer Überreaktion der EZB und ziehen Parallelen zu den Jahren 2008 und 2011, als die EZB ihre Zinsen in Krisen hinein erhöhte und das rasch zurücknehmen musste. Ist dieser Vergleich legitim?

Die Kerninflationsraten lagen Ende 2008 bei 1,8% und Ende 2011 bei 1,6%. Parallelen zur aktuellen Situation sehe ich nicht. Natürlich wäre es schön, wenn die Inflation auch jetzt schnell auf diese Niveaus zurückginge und rasche Zinssenkungen ermöglichte. Für wahrscheinlich halte ich das allerdings nicht.

Ist es für Fed und EZB also aktuell die größere Gefahr, die Zinsen zu stark zu erhöhen oder zu wenig zu tun – ähnlich wie in den 1980er Jahren, als die Fed so das Inflationsproblem verschärfte?

Für die meisten Zentralbanken ist derzeit eine Entankerung der Inflationserwartungen das Hauptrisiko. Zu wenig zu tun ist daher die größte Gefahr. Wenn sie dabei zu restriktiv würden, könnten sie ihre Leitzinsen jederzeit kräftig senken. Es hat sich in der Pandemie gezeigt, dass dadurch eine längere globale Rezession schnell verhindert werden konnte.

Nicht zuletzt in Deutschland werden angesichts der Konjunkturschwäche fiskalische Impulse vorbereitet. Ist das angemessen oder verstärkt das über die Ankurbelung der Nachfrage tendenziell noch das Inflationsproblem?

Deutschland sollte fiskalische Impulse vor allem etwas zielgerichteter gestalten. Von allgemeinen Preisbremsen wie im vergangenen Winter halte ich in der aktuellen Situation wenig. Stattdessen brauchen wir eine offene Diskussion, warum wir dieses Jahr vermutlich als einziges G7-Land ein fallendes Bruttoinlandsprodukt aufweisen könnten. Eine zu geringe Binnennachfrage dürfte dieses Mal nicht das Hauptproblem in Deutschland sein.

Erste Stimmen warnen davor, dass absehbar nicht mehr Inflation, sondern Deflation, also eine Spirale aus sinkenden Preisen und schrumpfender Wirtschaft zum Risiko wird – nicht zuletzt wegen der Deflation in China. Ist das ein realistisches Szenario?

In China könnten die strukturellen Problem des Immobilienmarktes die inländische Nachfrage und den globalen Preisdruck bei Gütern tatsächlich dämpfen. Dies könnte sich bei uns als willkommenes Gegengewicht zu den aus der Arbeitskräfteknappheit resultierenden Inflationsgefahren bei Dienstleistungen entpuppen. Ein Grund für globale Deflationssorgen ist China aber nicht.

Neben ihren Zinserhöhungen haben Fed und EZB angefangen, ihre in den Krisenjahren durch Anleihekäufe aufgeblähten Bilanzen zu reduzieren. Braucht es dabei mehr Tempo und kann der Bilanzabbau weitergehen, selbst wenn die Zinserhöhungen gestoppt werden? Und was ist in dem Fall, dass die Leitzinsen perspektivisch sogar sinken?

Die EZB hat vor der Pandemie immer herausgestellt, dass ihre Stimulierungsmaßnahmen aufeinander abgestimmt seien und am besten als Paket wirkten. Wenn das so ist, sollte sie alle ihre Politikinstrumente nun auch parallel restriktiver ausrichten. Bei der Bilanz ist dies bislang nur wenig geschehen. Die EZB sollte den Bilanzabbau daher selbst bei einem Zinserhöhungstopp beschleunigen. Dieser wäre nur mit fallenden Leitzinsen kaum kompatibel. Die trotz massiver Leitzinserhöhungen erfreulich stabilen Anleihemärke der Euro-Peripherie geben ihr aktuell auch die Gelegenheit, den Bilanzabbau zu beschleunigen. Sie sollte die Gunst der Stunde nutzen.

Im Interview: Karsten Junius

„Zinsgipfel gleicht eher dem Tafelberg als dem Matterhorn“

Der Chefvolkswirt der Bank Safra Sarasin über den Kurs von Fed und EZB sowie den Ausblick in Sachen Inflation

In der kommenden Woche lädt die US-Notenbank Fed zu ihrem jährlichen Stelldichein in Jackson Hole ein. Marktteilnehmer und Ökonomen erwarten sich Signale über den weiteren geldpolitischen Kurs weltweit. Im Interview schätzt Karsten Junius, Chefvolkswirt der Schweizer Bank Safra Sarasin, die Lage ein.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.