KommentarAutoindustrie

Abgasskandal: Aufarbeitung ohne Ende

Die juristische Aufarbeitung des 2015 aufgeflogenen Dieselskandals nimmt kein Ende. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs reicht nun auch nachgewiesenes fahrlässiges Handeln der Autohersteller im Zusammenhang mit unzulässigen Abschalteinrichtungen zur Schadstoffvermeidung für Schadenersatzzahlungen aus.

Abgasskandal: Aufarbeitung ohne Ende

Abgasskandal

Aufarbeitung ohne Ende

Von Carsten Steevens

Ist es ein Durchbruch in der juristischen Aufarbeitung des vor knapp acht Jahren aufgeflogenen Dieselskandals oder geht die Affäre um Selbstzünder mit unzulässiger Abschalteinrichtung in eine weitere Verlängerung? Der Bundesgerichtshof (BGH) hat eine Kehrtwende in seiner bisherigen Rechtsprechung vollzogen und erstmals bereits bei fahrlässigem Handeln der Autobauer einen Schadenersatzanspruch der Halter von illegal manipulierten Fahrzeugen bejaht. Die Entscheidung, die vorsieht, dass Kunden von den beklagten Autobauern Audi, Mercedes-Benz und Volkswagen eine Entschädigung von 5 bis 15% des Kaufpreises erhalten können, wenn es sich bei Techniken wie der temperaturgesteuerten Abgasreinigung um eine illegale Abschalteinrichtung handelt, ist wegweisend für über 2.000 Verfahren am BGH und mehr als 100.000 offene Verfahren an Gerichten in Deutschland.

Der BGH müsse nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom März das deutsche Haftungsrecht "bis an die Grenze" auslegen, ließ die Vorsitzende Richterin eine Kursänderung bereits während der Verhandlung im Mai erkennen. Bislang hatte das oberste deutsche Gericht Schadenersatzzahlungen von Autoherstellern nur wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung von Kunden in Aussicht gestellt. Das sogenannte Thermofenster, das bei hohen und niedrigen Temperaturen die Abgasreinigung zum Motorschutz drosselt, war aus Sicht des BGH keine von den Herstellern vorsätzlich zur Täuschung des tatsächlichen Schadstoffausstoßes verbaute Technologie. Diese hatte auch das Kraftfahrt-Bundesamt genehmigt.

Von der höchstrichterlichen Entscheidung könnten nach Meinung von Anwälten mehrere Millionen Verbraucher in Europa profitieren, weil die Hürden für Schadenersatz im Abgasskandal deutlich gesenkt worden seien. Es deuten sich zahllose Gerichtsverfahren an, in denen im Einzelfall zu klären sein wird, ob Autohersteller fahrlässig handelten. Ende: offen. Weder der im Frühjahr 2020 erreichte außergerichtliche Vergleich in einem Musterfeststellungsklageverfahren gegen VW noch das erste Urteil, in dem der BGH den Konzern aus Wolfsburg vor gut drei Jahren erstmals zu Schadenersatz verurteilte, markierten in der Aufarbeitung von "Dieselgate" einen Schlusspunkt, wie der Autobauer damals irrtümlich befand. Der teuerste Schaden in der Geschichte der deutschen Rechtsschutzversicherer wird noch teurer werden. Den Klotz der Beschäftigung mit den Dieselklagen sind die Hersteller, die viel Geld für ihren Umbruch ins E-Auto- und Softwarezeitalter benötigen, noch lange nicht los.

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