Amerikas Finanzbranche stürzt sich auf künstliche Intelligenz
US-Finanzbranche stürzt sich auf KI
Der KI-Boom reißt Amerikas Finanzbranche mit. Banken versprechen sich von der Technologie
hohe Effizienzgewinne, doch Regulatoren warnen
vor übermäßigem Enthusiasmus.
In Rekordtempo arbeitet sich die Anwendung von Ntropy durch die Gewinn-und-Verlust-Rechnung sowie die Cashflow-Informationen eines Kundenunternehmens, wertet die Daten aus und überträgt sie in die Systeme eines angeschlossenen Finanzinstituts. Am Ende des Prozesses, so beschreibt es Ntropy-Mitgründerin und -CEO Naré Vardanyan, steht eine Entscheidung: Wird die Bank als Underwriter für Kredite an das jeweilige Unternehmen aktiv oder nicht?
Diese Frage zu beantworten, ist für US-Finanzinstitute extrem zeitaufwendig und kostenintensiv. Denn sie mögen zwar über gewaltige Mengen an Daten von Antragsstellern verfügen. Allerdings befinden sich diese zumeist nicht in einem nutzbaren Format. Die Banken müssen mitunter also entweder hunderte Mitarbeitern beschäftigten, die Anträge manuell auslesen, oder die Informationen an Dienstleister wie Kreditbüros senden, die diese formatieren und gegen hohen Aufpreis an die Geldhäuser zurückschicken.
Kleine Firmen in der Klemme
„Dabei springen viele Unternehmen ab und suchen sich einen Underwriter, der unter höherem Risiko schneller eine Entscheidung trifft“, sagt Vardanyan im Rahmen der Finanzbranchenkonferenz „Money 20/20“ in Las Vegas. Viele kleine und mittelgroße Unternehmen, ein enorm wichtiger Teil der amerikanischen Wirtschaft, würden infolge ihres Drangs zu einer schnelleren Liquiditätsbeschaffung zum Opfer von Zinswucher.
Die Anwendung von Ntropy soll eine umfassende Analyse von Finanzdaten in einem Bruchteil der Zeit leisten können, die menschliche Analysten dafür benötigen – Banken sollen einen Underwriting-Entschluss so in unter 24 Stunden treffen können. Möglich wird das angeblich durch den Einsatz großer Sprachmodelle. Damit ist das US-Start-up, das bei einer Series-A-Funding-Runde im Oktober 2022 von Investoren um die Venture-Firma Lakestar 11 Mill. Dollar einsammelte, Teil eines Trends, der neben der gesamten amerikanischen Wirtschaft insbesondere auch die Finanzbranche mitreißt: Der Boom um künstliche Intelligenz (KI).
Besonders große Dienstleister werden aktiv
Laut S&P Global zählte der Finanzsektor bereits im vergangenen Jahr zu den größten Anwendern von KI. Global kamen Banking-, Versicherungs- und verwandte Dienstleister auf einen Anteil von 18% am Endnutzeraufkommen lernfähiger Algorithmen und folgte damit nur knapp hinter der IT- und Telekommunikationsbranche auf Platz zwei. Laut einem aktuellen Bericht der Risikokapitalfirma Acrew und den Organisatoren der „Money 20/20“ haben 76% der Unternehmen aus der Finanzbranche KI-Initiativen angekündigt, 46% sind nach eigenen Angaben bei generativer künstlicher Intelligenz aktiv. Der Großteil entfällt demnach auf die führenden öffentlich gehandelten Unternehmen des Sektors.

Bank of New York Mellon zählt zu den Instituten, die sich dabei besonders hervortun wollen. Die nach der Frau von Firmengründer Alexander Hamilton benannte Enterprise-AI-Plattform Eliza soll den Kundendienst und interne Prozesse straffen. Laut Sarthak Pattanaik, Leiter des KI-Zentrums des Geldhauses, sollen alle Geschäftszweige künftig auf Basis von Eliza ihre Effizienz steigern können. Neben der Auswertung von Kreditdokumenten solle die Verarbeitung großer Datenmengen auch das Treasury-Clearing beschleunigen – BNY Mellon ist ein führender Dienstleister für den Ausgleich von Forderungen und Verbindlichkeiten im US-Staatsanleihemarkt.
„Es gibt keinen Bereich unserer Branche, den KI nicht transformieren wird“, betont Prem Natarajan, Chefwissenschaftler beim Kreditkartenanbieter Capital One. Finanzdienstleister sollten nicht darauf warten, dass andere den praktischen Einsatz großer Sprachmodelle im Banking vorantrieben, sondern selbst aktiv werden. „KI stellt kein Experiment dar, sondern ist schon heute bedeutsam“, unterstreicht Sarah Friar, Finanzchefin der Technologieschmiede OpenAI, während einer Podiumsdiskussion.
Kritische Stimmen werden laut
Doch in die Euphorie mischen sich in Las Vegas auch laute und kritische Stimmen. „Erzählt den Leuten nicht, dass ihr etwas mit künstlicher Intelligenz macht, wenn das gar nicht stimmt“, warnt Gary Gensler, der Vorsitzende der US-Börsenaufsicht SEC, die in der Hauptkongresshalle des Venetian Resort Hotel versammelten Fintech-Köpfe. Das „AI Washing“ – also eine übertriebene oder falsche Darstellung des Ausmaßes, in dem Investmentfirmen maschinelles Lernen bei ihren Dienstleistungen nutzen – ist in den vergangenen Monaten zunehmend auf die Agenda des Regulators gerückt.
Gefahren durch Deep Fakes
Im Frühjahr verklagte die SEC die Investmentberater Delphia und Global Predictions wegen angeblich wahrheitswidrigen oder irreführender Behauptungen zu ihrem KI-Einsatz. Die Firmen schlossen darauf einen Vergleich und kamen mit Zivilstrafen von insgesamt 400.000 Dollar davon. Das „AI Washing“ ist allerdings nicht das größte Problem, das Gensler hinsichtlich der Technologie sieht.
Zwar seien die potenziellen Vorteile offensichtlich: Über 50 Millionen Amerikaner holten sich Investmentberatung über ihre Mobiltelefone – der Einsatz von KI könne dazu beitragen, die Geldanlage weiter zu demokratisieren und damit die Marktmacht großer Banken aufzubrechen. „Wir müssen verhindern, dass die Algorithmen für neue Konflikte sorgen“, wendet der SEC-Chef allerdings ein. So eröffne generative KI über hoch realistische Deepfakes neue Möglichkeiten zum Betrug und zur Marktmanipulation.
Gewaltige Verlustrisiken
Es sind Beispiele wie jenes aus der Hongkonger Vertretung einer multinationalen Firma, die Cybersicherheitsexperten alarmieren. Betrüger lockten einen Mitarbeiter des Hauses zu Jahresbeginn in einen fingierten Videocall, in den sich neben anderen Teilnehmern auch der in London ansässige Finanzchef einwählte – so sah es zumindest aus. Doch keine der im Telefonat vertretenen Personen war laut der Hongkonger Polizei tatsächlich dabei. Den Betrügern gelang es, den arglosen Mitarbeiter dazu zu bringen, auf Anweisung des „Finanzchefs“ 200 Mill. Hongkong-Dollar (rund 23,8 Mill. Euro) auf ein externes Konto zu überweisen.

Laut der Beratungsgesellschaft Deloitte könnte generative KI dazu beitragen, die Verluste der Finanzdienstleistungsbranche durch Betrug allein in den USA bis 2027 auf 40 Mrd. Dollar anzuschieben. Gegenüber 2023 impliziert dies eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 32%. Ohne generative KI, so wollen es die Deloitte-Analysten errechnet haben, würden die Verluste in drei Jahren in der Spanne zwischen 15 und 20 Mrd. Dollar liegen.
Technologie schafft Lösungen
Doch wo die Technologie für Probleme sorgt, eröffnet sie laut Branchenvertretern zugleich Chancen. „Der eindeutigste Anwendungsfall von künstlicher Intelligenz ist die Betrugsprävention“, sagt Dondi Black, Chief Product Officer beim Zahlungsdienstleister Total System Services. KI-Anwendungen könnten deutlich größere Datenmengen durchleuchten und damit schneller auf Anomalien stoßen als herkömmliche Analysewerkzeuge. Die Firma Reality Defender hat in Kooperation mit Nvidia und Oracle beispielsweise eine multimodale Plattform aufgebaut, mit der Banken Deepfakes erkennen können sollen. „So verhindern wir, dass Finanzinstitute in Know-Your-Customer-Prozessen oder bei der Freigabe von Transaktionen getäuscht werden“, sagt Gründer Ben Colman.
Großkonzerne wie Mastercard stehen indes vor der Frage, ob sie sich externe KI-Lösungen einkaufen oder selbst Anwendungen entwickeln sollen. „Alles, was die Betrugsprävention und direkte Kundeninteraktionen betrifft, machen wir selbst“, betont Greg Ulrich, Chief AI and Data Officer bei dem US-Zahlungsriesen. Bei der Effizienzsteigerung interner Prozesse greife Mastercard indes auf KI-Assistenten von Microsoft zurück. Bei der Entwicklung eigener Werkzeuge kommt der Konzern aber an einer zentralen Frage nicht vorbei, wie auch Ulrich einräumt: „Wie verbessern wir unsere Modelle, wenn KI Betrügern hilft, ihre Techniken stetig zu verfeinern?“ Die Branche steht damit vor einem Henne-Ei-Problem, das sich laut Analysten nur schwierig lösen lässt.
Sektor im Rausch
Eng damit verbunden sind Probleme beim Schutz der Privatsphäre von Kunden der Zahlungsdienstleister und Banken, verschlingt die Technologie doch gewaltige Mengen an sensiblen Finanzdaten. Wer im zunehmend verzweigten KI-Ökosystem zu welchem Zeitpunkt darauf zugreifen kann, ist für Unternehmen und Privatpersonen kaum transparent.

Doch die Vorteile lernfähiger Algorithmen versetzen den Sektor in einen Rausch – wer nicht dabei ist, hat schon verloren, so der Tenor auf der „Money 20/20“. Einige Konferenzteilnehmer räumen ein, dass die „Fear of Missing Out“ – die Furcht, etwas zu verpassen – umgeht. OpenAI-CFO Friar macht den Vertretern des Sektors vom Podium aus allerdings deutlich, dass zunehmend komplexere Anwendungen ihren Preis haben. „Die Skalierung der Technologie wird gewaltige Investitionen notwendig machen“, betont die Finanzchefin. Diese müssen die US-Branchenköpfe gegen die Effizienzgewinne durch künstliche Intelligenz abwägen.