Berührende Geschichten und grenzwertige Namen
Notiert in Moskau
Berührende Geschichten
Von Eduard Steiner
Eine berührende Geschichte hat das ukrainische Recherchekollektiv Public Interest Journalism Lab dieser Tage in Umlauf gebracht. Der 74-jährige Mykola Schapowalow aus der ukrainischen Stadt Tschernihiw musste im März 2022 erleben, wie mehrere Granaten in sein Haus einschlugen und große Zerstörung hinterließen. Das viersitzige Flugzeug aber, an dem der Hobby-Flugzeugbauer seit Jahren in seiner angeschlossenen Werkstatt baut, blieb wie durch ein Wunder unbeschadet. Bevor er das Haus verlassen hatte als die russischen Granaten gekommen seien, habe er noch schnell sein Flugzeugmodell gesegnet, damit Gott es vor der Zerstörung bewahren möge, erzählt er.
Bereits im Alter von sechs habe er – damals noch mithilfe seines Patenonkels – mit dem Modellbau begonnen, erzählt Schapowalow im Film. Die Leidenschaft für das Flugwesen aber habe er buchstäblich in die Wiege gelegt bekommen, weil er 1949 unter den Tragflächen eines Flugzeuges auf die Welt gekommen sei. „Meine ganze Kindheit war mit dem Brummen von Motoren verbunden“, sagt Schapowalow: „Und ich habe sie mein ganzes Leben lang geliebt“. Nun arbeitet er an seinem Flugobjekt, das er nach seiner Frau benannt hat, weiter, um es wenigstens zeitverzögert fertigzustellen und über den Hof seiner Vorfahren im Gebiet Poltawa zu fliegen. Es ist sein Lebenstraum. Und: „Bei der Arbeit fühlt man sich wohl“. Dass Arbeit eines der wesentlichsten Therapeutika ist, ein Rettungsanker während des Krieges, zeigte auch eine Erhebung des Meinungsforschungsinstitus „Rating“ im Februar. Wer keine Arbeit habe oder auf sich nehme, könne sich weitaus schwerer an die neuen Gegebenheiten anpassen und den Stress bewältigen. Im Übrigen auch ein Phänomen, von dem Flüchtlinge aus der Ukraine berichten.
Alltag in der Ausnahmesituation und Anpassung an die Verwerfungen gehen natürlich auch in Russland – unter anderen Vorzeichen – weiter. Sichtbar etwa an der Herkunft mancher Produkte, die aufgrund von Sanktionen oder der Selbstbeschränkung Hunderter westlicher Unternehmen inzwischen aus anderen Teilen der Welt, insbesondere aus China, kommen. Bei neuen PKW etwa haben westliche Autobauer ihre lange unangefochtene Marktführerschaft freiwillig aufgegeben, sodass auf dem heute extrem geschrumpften russischen Automarkt der Anteil des russischen Lada-Produzenten plötzlich bei 42% liegt und der von chinesischen Herstellern binnen eines Jahres von unter 10 auf über 40% hochgeschnellt ist. Und wie schon 2022 geht das Rebranding weiter, mit dem russische Käufer ein westliches Unternehmen, das Russland verlassen hat, weiterzuführen versuchen. Zuletzt wurde Ende April das erste Restaurant „Rostic´s“ an der Stelle eröffnet, wo zuvor ein Fast-Foodrestaurant der US-Kette KFC (Teil von Yum! Brands) gestanden hatte. 100 weitere Restaurants sollten dieses Jahr noch folgen. Rostic´s hatte früher schon mit KFC zusammengearbeitet und ist den Konsumenten bekannt.
Erst kürzlich wurde bekannt, dass der spanische Moderiese Zara das Russland-Geschäft an die in den Arabischen Emiraten domizilierte Gesellschaft Dubai Multi Commodities Centre verkauft hat. Diese wird nicht die Marken Pull&Bear, Berksha oder Massimo Dutti führen, sondern neu geschaffene namens MAAG, DUB, ECRU, VILET. Die Geschäfte des britischen Spielzeughändler Hamleys sollten Medienberichten zufolge künftig unter „Winnie“ (nach „Winnie Puuh“) firmieren.
Am meisten von sich reden machte McDonald’s: Der russische Käufer änderte zwar das Erscheinungsbild nur leicht, benannte die Fast-Food-Kette aber in ein etwas sperriges „Vkusno i totschka“ („Lecker und Punkt“) um. Das nahm sich inzwischen ein russisches Bestattungsunternehmen zum Vorbild und ließ sich das Warenzeichen „Grustno i totschka“ patentieren, zu Deutsch: „Traurig und Punkt“. Zu einer geschäftlichen Verwendung habe man sich noch nicht durchgerungen, sagte der Firmenchef: Denn für die Bestattungsindustrie sei die Wortverbindung doch „ein wenig grenzwertig“.