Notiert in Tokio

Bitte nicht kugelklettern!

Der heilige Vulkanberg Fuji, das Wahrzeichen von Japan, sollte nur von Juli bis Anfang September bestiegen werden. In diesem ersten Jahr nach dem Ende der Pandemie rechnen die Behörden mit einem Massenansturm und warnen daher vor einem Aufstieg ohne Ruhepausen auf Japans höchsten Berg.

Bitte nicht kugelklettern!

Notiert in Tokio

Bitte nicht kugelklettern!

Von Martin Fritz

Am kommenden Samstag beginnt die offizielle Klettersaison für den Berg Fuji, nur in den nächsten zwei Monaten können die Wanderer in Hütten übernachten. Die übrigen Jahreszeiten gelten wegen starkem Wind und viel Schnee als zu gefährlich für Amateure. Die ungewöhnlich zahlreichen Frühbuchungen für die Hüttenlager deuten auf einen Besucheransturm hin, denn erstmals seit der Pandemie sind die vier Wege auf den Gipfel des Fuji-san wieder unbeschränkt zugänglich. (Wie Mont beim Montblanc gehört das Wort san für Berg zum japanischen Namen, die deutsche Bezeichnung Fujiyama beruht auf einer falschen Lesung des Schriftzeichens für Berg.)

Die Klettersaison 2023 für den beliebten Yoshida-Weg, der im Norden beginnt, dauert vom 1. Juli bis zum 10. September und für die drei Aufstiegspfade vom Süden und Osten vom 10. Juli bis zum 10. September. In der letztjährigen Saison erreichten laut Umweltministerium 160.000 Bergsteiger den Gipfel. Das war ein deutlicher Besucherrückgang im Vergleich zu 2019 vor der Covid-Pandemie, als 235.000 Kletterer gezählt wurden. Diesmal dürften es viel mehr werden, womöglich gerät der Rekord von 318.000 aus dem Jahr 2013 in Gefahr.

Die meisten Wanderer wollen den Gipfel, der eigentlich der Rand des Vulkankraters ist, zwischen vier und sechs Uhr morgens erreichen, damit sie den Sonnenaufgang über dem Pazifik erleben können. Daher geht es auf dem letzten Kilometer nur noch ganz langsam voran, der Massenandrang verursacht einen (Achtung: Kalauer!) Früh(s)tau zu Berge. Knapp ein Drittel der Kletterer versucht einen „Bullet Climb“, will also den sieben- bis achtstündigen Aufstieg über Nacht ohne Ruhepause schaffen. Behörden, Hüttenbetreiber und Polizei warnen ausdrücklich vor diesem „Kugelklettern“, so der japanische Ausdruck.

Diese Wandermethode erhöht das Risiko einer Höhenkrankheit und von Unfällen aufgrund von Müdigkeit durch Schlafmangel. Daher sollen die Bergsteiger einen Plan erstellen, der ihnen genügend Zeit für einen gemächlichen Aufstieg lässt. Ansonsten müssen Rettungskräfte ihnen zu Hilfe eilen. Wie das übrige Japan leidet jedoch auch die Bergwacht am Fuji-san unter Personalmangel, so dass für einige Kugelkletterer jede Hilfe zu spät kommen könnte.

Was treibt Ausländer wie Japaner auf diesen seit 1707 schlafenden Vulkan? Wer ihn besteigt, gilt einem Bonmot zufolge als weise, aber wer es zweimal tut, als Idiot. Da der Berg eine Shintō-Göttin beherbergen soll, dient ein Besuch der Unsterblichkeit. Die Farbholzschnitte von Katsushika Hokusai machten die Silhouette des Fuji-san weltweit bekannt. In diesem Jahr jährt sich auch noch zum zehnten Mal die Anerkennung des Berges als UNESCO-Weltkulturerbe. Die Bahngesellschaft JR East plant dazu spezielle Veranstaltungen an den Haltebahnhöfen des Zuges „Fuji Excursion“, der von Tokio ins Fuji-Gebiet fährt.

Nicht jeden Japaner bringt das nationale Wahrzeichen in Verzückung: Der Fuji-san sei erbärmlich, schrieb der Schriftsteller Osamu Dazai 1939 und spielte damit auf den extrem breiten Sockel und den flachen Gipfel an. Trotz 3.776 Metern Höhe ist der Vulkan daher relativ leicht zu bezwingen. Praktisch niemand beginnt die Tour unten, sondern man fährt mit dem Bus auf 2.300 Meter Höhe. Von dort sind nur noch 1.500 Höhenmeter zu überwinden. Die größte Schwierigkeit bereitet die dünne Luft, die bei vielen kräftige Kopfschmerzen hervorruft. Dennoch sieht man unterwegs auch Kleinkinder und hochbetagte Senioren! Notfalls erfrischen sie sich mit Sauerstoff in Dosen, die es an jeder Hütte zu kaufen gibt.

Leider ist Japans Wahrzeichen nur von weitem majestätisch schön. Graue Asche und schwarze Lava stumpfen die Augen der Wanderer bald ab. Es herrscht Kommerz pur: Jeder WC-Besuch, jeder Stempel auf dem hölzernen Wanderstab kostet einen nicht gerade bescheidenen Obolus. Je höher die Hütte, desto teurer die Schlafpritsche. Und wer im Morgendunkel endlich durch das Tor des Shinto-Tempels am Gipfel schreitet, sieht als Erstes einen Getränkeautomaten mit heißem Dosenkaffee taghell leuchten.

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