Im BlickfeldPost-Office-Skandal

A Very British Scandal

Der Justizskandal um eine Abrechnungssoftware zeigt, wohin Kostensenkungsdruck führen kann. Nun stellt die britische Öffentlichkeit die Frage: Werden die Urteile gegen Poststellenleiter annulliert und Entschädigungen gezahlt?

A Very British Scandal

A Very British Scandal

Der Horizon-IT-Skandal lässt keinen gut aussehen, der in den vergangenen Jahrzehnten in der britischen Regierung saß. Zeit, die Opfer zu entschädigen.

Von Andreas Hippin, London

Für die Betroffenen ist es immer noch kaum zu glauben: Ein TV-Vierteiler hat das Schicksal der britischen Poststellenleiter in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, denen Post Office Limited zu Unrecht Betrug und Bilanzfälschung vorgeworfen hatte. Rund 3.500 Menschen unterstellte das Unternehmen, Geld aus ihrer Filiale unterschlagen zu haben. Mehr als 700 wurden strafrechtlich verfolgt und verurteilt, manche zu Haftstrafen. Viele Existenzen wurden ruiniert. Schadhafte Abrechnungssoftware von Fujitsu hatte dafür gesorgt, dass der Eindruck entstand, sie hätten das Unternehmen bestohlen. Lediglich 93 Urteile wurden bislang annulliert.

IT-Probleme seit Jahren bekannt

Computer Weekly“ berichtet bereits seit 2009 über den IT-Skandal, der nun endlich aufgearbeitet werden soll. Die Geschichten wurden nicht von anderen Medien aufgegriffen. Computer und Poststellenleiter waren keine Themen, mit denen sich höhere Auflagen oder Zuschauerzahlen generieren ließen. Das Satiremagazin „Private Eye“ begann 2011 mit der Berichterstattung. Es ist in jeder Hinsicht „A Very British Scandal“ – nahezu jeder, der im vergangenen Vierteljahrhundert in der Regierung war, hatte damit zu tun. Und natürlich auch Anwälte, Berater und sonstige Dienstleister.

Fernsehserie wird Publikumshit

Es bedurfte der zu Jahresbeginn ausgestrahlten TV-Serie „Mr Bates vs The Post Office“, um den Menschen in Großbritannien die Problematik nahezubringen. Sie versammelte 14,8 Millionen Zuschauer vor dem Bildschirm und war damit die populärste Serie des Privatsenders seit 2021. Die Autorin Gwyneth Hughes, die drei Jahre lang an der Geschichte gearbeitet hatte, zeigte sich „komplett erstaunt“ über die enthusiastische Publikumsreaktion. Sie habe gedacht, dass es sich um ein „ziemliches Nischenthema“ handele. Zum Erfolg dürfte auch beigetragen haben, dass der populäre Schauspieler Toby Jones den Poststellenleiter Alan Bates spielt, der sich seit langem für die Opfer einsetzt. Premierminister Rishi Sunak sprach von einem „schrecklichen Justizirrtum“. Justizminister Alex Chalk sagte im Unterhaus, ein Gesetz zur Aufhebung von Hunderten von Urteilen werde „aktiv erwogen“.

Schwangere zu Haftstrafe verurteilt

Seema Misra war schwanger, als sie ins Gefängnis musste. Angeblich hatte sie 75.000 Pfund unterschlagen. Vijay Parekh verbrachte sechs Monate unschuldig hinter Gittern und fand danach keine Arbeit, weil er vorbestraft war. Janet Skinner, eine Mutter von zwei Kindern, musste für neun Monate ins Gefängnis, weil angeblich 59.000 Pfund fehlten. Nach der Ausstrahlung der Fernsehserie setzten sich 50 bislang nicht bekannte potenzielle Opfer mit Anwälten in Verbindung.

Paula Vennells wird zur Zielscheibe

Mehr als eine Million Menschen unterschrieben eine Petition, in der Paula Vennells, die von 2012 bis 2019 an der Spitze der Poststellen-Betreibergesellschaft stand, aufgefordert wurde, den ihr verliehenen Orden CBE (Commander of the British Empire) zurückzugeben. Durchgeboxt hatte ihn dem „Independent“ zufolge die Regierung von Theresa May, obwohl mindestens ein Mitglied des dafür zuständigen Komitees Bedenken hatte.

Titel zurückgegeben

„Private Eye“ zufolge beauftragte Vennells nach Ausstrahlung der Fernsehserie die Kanzlei Mishcon de Reya damit, ihr unliebsame Journalisten vom Leib zu halten. Wenige Tage später gab sie den Orden zurück. Ihre Ämter in den Boards der Einzelhändler Dunelm und WM Morrison Supermarkets sowie als Geistliche der anglikanischen Kirche hatte sie bereits 2021 niedergelegt, als der Londoner Court of Appeal 39 Poststellenleiter rehabilitierte. Davor war sie kurz als mögliche Bischöfin für London im Gespräch.

Anwaltsaufsicht wird aktiv

Obwohl Probleme mit dem von Fujitsu entwickelten Horizon-System bekannt gewesen seien, habe das Management auf dessen Verlässlichkeit bestanden, stellte das Berufungsgericht fest, über dem nur noch der Supreme Court steht. Habe ein Poststellenleiter die Exaktheit infrage gestellt, sei er wie mit einer Dampfwalze überrollt worden. Die Solicitors Regulation Authority prüft derzeit das Verhalten von Anwälten und Kanzleien, die für Post Office Limited tätig waren.

Rentabilität um jeden Preis

Der ehemalige Schatzkanzler George Osborne plante, die Brief- und Paketlogistik der britischen Post unter dem Namen Royal Mail an die Börse zu bringen. Im Vorgriff wurden die Filialen in Post Office Limited gebündelt. Vennells wurde lange zugutegehalten, dass sie das defizitäre Unternehmen wieder in die Gewinnzone geführt hatte. Die Einführung von Horizon sollte zeitraubende Vorgänge automatisieren. Andrew Higginson, der ehemalige Chairman von WM Morrison, ließ es sich nicht nehmen, Vennells „einfühlsam, schlagkräftig und arbeitsam“ zu nennen und ihr für ihren „wesentlichen“ Beitrag zum Unternehmenserfolg zu danken.

Cameron kann sich nicht erinnern

An Schuldzuweisungen hat es in den vergangenen Tagen nicht gefehlt. Die Tories stellten Ed Davey, den Parteichef der Liberaldemokraten, an den Pranger, der als Postminister der Koalitionsregierung von David Cameron fungierte. Davey, der anderen bei jeder Gelegenheit den Rücktritt empfiehlt, sagte, er sei vom Management der Poststellen-Betreibergesellschaft hinters Licht geführt worden. Cameron sagte, er könne sich nicht erinnern, über Einzelheiten der Sache unterrichtet worden zu sein. Auch das Ausmaß des Problems sei ihm nicht klar gewesen. Aber jedem, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten Teil der Regierung war, müsse „extrem leid tun“, was geschehen sei, sagte der ehemalige Premierminister.

Außenministerium warnte

Der Labour-Premierminister Tony Blair hatte die Einführung des neuen IT-Systems vorangetrieben, obwohl er über technische Probleme unterrichtet war. Wie der „Telegraph“ berichtete, hatte das Außenministerium darauf hingewiesen, dass eine Aufgabe des Projekts den Beziehungen zu Japan schaden könnte. Das habe großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung gehabt, zitiert das Blatt den ehemaligen Blair-Berater Geoff Mulgan. David Wright, der ehemalige Botschafter in Japan, hatte gewarnt, dass ein Aus für Horizon erhebliche interne Probleme bei Fujitsu und den Zusammenbruch der mit der Implementierung beauftragten Tochter ICL zur Folge haben könnte. Labour hatte das Projekt von der konservativen Regierung unter John Major geerbt. Der Rollout hatte bereits 1999 begonnen.

Schuldeingeständnis von Fujitsu

Takahito Tokita, CEO von Fujitsu, entschuldigte sich bei den Opfern und ihren Familien, als er am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos von BBC-Reportern abgepasst wurde. In Sachen Entschädigung wollte er sich allerdings nicht äußern und verwies auf laufende Untersuchungen. Sein Europachef Paul Patterson gab vor dem Wirtschaftsausschuss des Unterhauses zu, dass Fujitsu bei der Strafverfolgung der Poststellenleiter mit Post Office Limited zusammengearbeitet hat, und entschuldigte sich für die Rolle der Firma in diesem „eklatanten Justizirrtum“. Man habe die „moralische Pflicht“, sich an der Entschädigung der Betroffenen zu beteiligen.

Einer der Gründe dafür, dass es zu dem Skandal kommen konnte, war der blinde Glaube an teuer eingekaufte IT, von deren Einsatz man sich Wunderdinge erhoffte. Seit 2021 setzt das Arbeitsministerium künstliche Intelligenz (KI) ein, um Sozialleistungsbetrug auf die Schliche zu kommen. Da ist die nächste Katastrophe vorprogrammiert, zumal es sich bei KI um eine komplexere Technologie handelt.

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