Autohersteller

Chip-Mangelwirtschaft

Der weltweite Lieferengpass bei Halbleitern für Fahrzeuge hat Schwachstellen in den Beschaffungssystemen der Autoindustrie offengelegt.

Chip-Mangelwirtschaft

Hätte, hätte, Fahrradkette! Man kann den Eindruck gewinnen, dass in den Berichterstattungen der Autohersteller und ihrer Zulieferer über Absatz, Bilanzen und Quartalszahlen derzeit der Konjunktiv Einzug gehalten hat. Engpässe in der Branche bei der Beschaffung von Halbleitern beherrschen seit Monaten die Schlagzeilen. Die Autobauer vermitteln die Botschaft, dass die Erholung und der eingesetzte Aufschwung in dem wichtigen Wirtschaftszweig noch schneller vonstattengehen könnten, hätte man deutlich mehr Chips zur Verfügung. Die ge­genwärtige Knappheit bremst offensichtlich die Hersteller.

Kaum eine Konferenz mit Medienvertretern vergeht, ohne dass die Führungen der betroffenen Unternehmen über den Mangel an elektronischen Mikrobauteilen in der Fahrzeugproduktion lamentieren. Das Phänomen ist ein weltweites Thema. Ob nun in Europa, Asien oder andernorts. Wo man hinschaut, überall herrscht in der Branche die gleiche Sorge über eine Unterversorgung mit Chips für Pkw. Die schwierige Situation ziehen in Deutschland sogar Audi und Daimler als Grund dafür heran, dass sie ihre Fertigung in manchen Werken zeitweilig einschränken und vorsorglich deshalb Kurzarbeit beantragen müssen. Ähnlich verhielt es sich bereits in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres.

Auf den ersten Blick ist die Ursache für diese Entwicklung eine Verkettung unglücklicher Umstände. Schon vor Ausbruch der Pandemie im Februar/März 2020 befand sich die Halbleiterindustrie weltweit in einem zyklischen Abschwung. Die Dynamik der Nachfrage nach Chips schwächte sich seinerzeit spürbar ab. Hersteller wie Infineon kämpften mit Überkapazitäten. Die Leerstandskosten stiegen. Infineon & Co. waren gezwungen, ihre Fertigungskapazitäten zu reduzieren, um die Kosten im Griff zu behalten. Auch in der Autoindustrie lief es nicht mehr so rund wie vorher. Das Pkw-Neugeschäft ging tendenziell zurück.

Dann kam die Coronaseuche. Dieser exogene Schock sorgte für einen Absturz der Konjunktur. Aus Furcht, dass die Auslieferungen noch deutlicher absacken könnten als in den Finanzkrisenjahren 2008 und 2009, reduzierten die Autohersteller ihre Chipbestellungen kräftig. Entsprechend drastisch senkten die Lieferanten ihre Einkaufsmengen für die Automotive-Aktivitäten, auch die Fertiger von Halbleitern. Als sich herausstellte, dass es doch nicht so schlimm kam wie ursprünglich erwartet, war es für die Autohersteller längst zu spät. Zwischenzeitlich switchten die Chipkonzerne in ihrem schnell­lebigen Geschäft die Fertigung um, da infolge von Covid-19 andere Abnehmerzweige wie etwa Computer, Tablets, Spielekonsolen und Bereiche der Telekommunikation mit wachsender Homeoffice-Tätigkeit vor allem von Büroangestellten durch die Decke gingen. Entsprechend versorgten sie diesen gewachsenen Bedarf. Die Autoindustrie hatte das Nachsehen. Mit den wieder wachsenden Bestellmengen aus dieser Branche kamen und kommen die Halbleiterhersteller kaum noch nach. Die Wartezeiten verlängern sich.

Welche Dimension das Thema hat, zeigt die Statistik. Der globale Automotive-Chipmarkt umfasst einen Jahresumsatz von 37 Mrd. Dollar. Davon entfällt die Hälfte auf die Anbieter Infineon, NXP, Renesas, Texas Instruments und STMicroelectronics. Zum Vergleich: Der Umfang dieses Marktsegments entspricht dem jährlichen Chipeinkaufsvolumen von Apple, dem weltgrößten Einzelabnehmer von Halbleitern (sic!). Das verdeutlicht, wo die Musik spielt. Bei dieser Größenordnung wird klar, wer sich in der Warteschlange in der als Mangelwirtschaft wahrgenommenen Situation hinten anstellen muss. Diejenigen, die das trifft, müssen sich in Geduld üben, müssen doch die Chipwerke die Produktion von Pkw-Komponenten erst noch weiter hochfahren, nachdem die Autobauer größere Mengen nachbestellt haben.

In der Aufregung über diese herausfordernde Lage wird in der deutschen Autoindustrie wieder der Ruf nach Vater Staat laut. Der Bau von zusätzlichen Fertigungsstätten mit öffentlichen Mitteln kann das Problem aber kurzfristig nicht lösen. Solche Projekte kosten Zeit. Beobachter rechnen damit, dass der Engpass bis Ende 2021 dauert. In dieser Misere bleibt beiden Seiten – sowohl den Autobauern als auch den Chipherstellern – nichts anderes übrig, als aus der Situation zu lernen, um es künftig besser zu machen. Statt die Fehler bei anderen zu suchen, sollten die Verantwortlichen in der Autoindustrie der Frage nachgehen, ob ihre Beschaffungssysteme in der infolge von Corona beschleunigten Digitalisierung noch zeitgemäß sind. Die Pandemie hat ihre Schwachstellen offengelegt.

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