Comeback der Kinderarbeit
Notiert in Washington
Comeback der Kinderarbeit
Von Peter De Thier
Es handelt sich um ein Phänomen, das viele Politiker vor Neid erblassen ließe, das US-Finanzministerin Janet Yellen und Notenbankchef Jerome Powell aber Kopfzerbrechen bereitet: Vollbeschäftigung. Der Grund für die Nervosität in Washington besteht in der Arbeitskräfteknappheit und dem daraus resultierenden Lohndruck, die mit einer Arbeitslosenquote von 3,4% einhergehen und zur hohen Inflation beitragen. Nun wollen immer mehr US-Staaten der geringen Verfügbarkeit an Personal mit hoch umstrittener Kinderarbeit entgegenwirken, die in vielen Fällen gegen Bundesgesetze verstößt.
Die Zahlen sprechen Bände. So waren nach Angaben des Arbeitsministeriums im April 10,1 Millionen Stellen unbesetzt: Im Gast- und Freizeitgewerbe, in der Landwirtschaft, in der Bauindustrie, aber auch bei Fachkräften, die entweder eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren müssen. Anders ausgedrückt: Auf jede unbeschäftigte Person im erwerbsfähigen Alter entfielen 1,7 offene Positionen. Zwar hat sich die Lage während der vergangenen Monate entspannt. Im Dezember lag die Zahl der unbesetzten Jobs bei über 11 Millionen. Gleichwohl kletterten die Löhne selbst im März noch um 4,4%, und derzeit deutet wenig darauf hin, dass der Kostendruck in absehbarer Zeit nachlassen wird.
Reagiert haben darauf nun die Gouverneure mehrerer Bundesstaaten – die größtenteils republikanisch Regierungschefs haben – mit neuen Gesetzen und Dekreten. Wegweisend war Iowas republikanische Gouverneurin Kim Reynolds. Sie unterschrieb ein Gesetz, das es Teenagern erlaubt, in Kindertagesstätten zu arbeiten. Und zwar ohne Beaufsichtigung. In Wisconsin debattiert das Parlament gerade ein Gesetz, wonach sogar 14-Jährige in Restaurants und Kneipen alkoholische Getränke servieren dürften. Das ist selbst für Republikaner, die das Gesetz unterstützen, ein heißes Eisen. Schließlich können in den USA 18-Jährige bereits an die Kriegsfront geschickt werden, doch der legale Kauf und Verzehr selbst eines Bieres ist erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres erlaubt. Nun aber als Kellner oder Kellnerinnen im spätpubertären Alter beim Job Zugang zu Bier, Wein und Schnaps zu haben sei ein gefährliches Ansinnen, beklagen sich konservative Elternorganisationen und religiöse Gruppen.
Dabei gehen Staaten wie Arkansas sogar ein Stück weiter. Dort hat Gouverneurin Sarah Huckabee Sanders, früher Pressesprecherin des ehemaligen Präsidenten Donald Trump, kürzlich ein Gesetz unterschrieben, das Arbeitgeber von der Verpflichtung entbindet, das Alter junger Bewerber zu verifizieren und die Zustimmung der Eltern zu der Arbeit einzuholen. Dass sie damit Bundegesetze gegen Kinderarbeit verletzen könnte, die es verbieten, Jugendliche im Alter von weniger als 14 Jahren einzustellen – auch das geht nur unter strengen Auflagen –, scheint Sanders nicht zu interessieren. Andere Staaten wollen durchsetzen, dass Kinder ab dem Alter von 14 Jahren auch während des Schuljahres bis 21 Uhr einem Job nachgehen dürfen. Auch das würde die vom Kongress verabschiedeten Regeln zu Schutz von Minderjährigen verletzen, die vor 85 Jahren während der Weltwirtschaftskrise eingeführt wurden.
Gouverneurin Reynolds sieht das alles ganz gelassen. „Das sollten wir den Eltern und den Kindern überlassen. Denn Jugendliche lernen dadurch eine Menge. Und wenn sie Geld verdienen wollen, dann ist es nicht unsere Aufgabe als Politiker, das zu verbieten“, erklärte Reynolds. Anders sieht es Seema Nanda, eine Juristin in Präsident Joe Bidens Arbeitsministerium. „Es ist verantwortungslos seitens einiger Staaten, Gesetze zum Schutz unserer Kinder zu lockern.“ Besorgt ist auch Shelly Curtis, eine Krankenschwester aus Virginia. Sie fürchtet, dass der republikanische Gouverneur Glenn Youngkin auf ähnliche Ideen kommen könnte. „Meine Söhne sollen sich auf die Schule konzentrieren und dann studiere“”, sagt sie. Sollte nun auch Youngkin die Kinderarbeit deregulieren wollen, „dann ziehen wir eben nach New York“.