Notiert in Brüssel

Dem Vernehmen nach

Wenn Diplomaten oder EU-Beamte darauf bestehen, dass das, was sie einem Journalisten gleich erzählen, nicht in der Zeitung lesen wollen, bedeutet das oft das Gegenteil. Vorausgesetzt, zur Informationsquelle führt nicht die geringste Spur.

Dem Vernehmen nach

Notiert in Brüssel

Dem Vernehmen nach

Von Detlef Fechtner

Die größten Lebenslügen der deutschen Sprache? Natürlich: „Der beißt nicht.“ Bekanntermaßen ist diese unaufgeforderte Beteuerung der Unschuld ja ohnehin das erste Lügensignal. Oder auch: „Der Betrag ist per Überweisung schon unterwegs zu Ihnen.“ Ja, ja, wer es glaubt!

Brüsseler Journalisten können aus ihren Gesprächen mit Beamten, Diplomaten oder Abgeordneten noch über eine andere weit verbreitete Lebenslüge berichten: „Das, was ich Ihnen jetzt erzähle, möchte ich aber auf gar keinen Fall in der Zeitung lesen.“ Heißt übersetzt so viel wie: Wäre schön, wenn der Journalist es irgendwo online oder Print unterbringt – vorausgesetzt natürlich, dass nicht die geringste Spur zur Quelle der Information gelegt wird. „Zero traceability“ lautet dafür ein Codewort in Brüssel, in sprachlicher Umkehr der Rückverfolgbarkeitsklauseln in der Agrarmarkt-Regulierung.

Höchste Stufe des Quellenschutzes

In der Praxis sind das dann Nachrichten, die bewusst auf überhaupt keine Quelle rekurrieren. Nicht auf „hochrangige Diplomaten“, nicht auf „EU-Kommissionskreise“, nicht einmal auf „Insider“. Sondern allenfalls auf den Mann ohne Vornamen, der über alles Bescheid weiß: Herr Vernehmen. „Dem Vernehmen nach“ ist die höchste Stufe des Quellenschutzes, vergleichbar nur noch mit „nach Informationen dieser Zeitung“. Das Risiko für die Journalisten: Sie müssen sich sehr sicher sein, dass die Quelle verlässlich ist. Denn wer als Journalist mit „dem Vernehmen“ argumentiert, ist persönlich angeschmiert, wenn sich die Nachricht als falsch herausstellt. Wer „dem Vernehmen nach“ schreibt, der bürgt quasi für die Richtigkeit. Unter uns: Selbst wenn die EU-Kommissionschefin Vertrauliches verraten hätte, wäre es fahrlässig, eine Veröffentlichung nicht auch in diesem Fall von der Absicherung durch eine zweite Quelle abhängig zu machen.

Entwürfe gehen durch das ganze Haus - und manchmal darüber hinaus

Bleibt die Frage, warum in Brüssel überhaupt so viele Nachrichten vor ihrer offiziellen Bekanntgabe „durchgestochen“ werden. Die Antwort hat weniger mit der Verrohung der Sitten zu tun als vielmehr mit einem politischen Prozess, an dem unfassbar viele Akteure beteiligt sind. So werden beispielsweise Vorschläge für neue EU-Verordnungen oder Richtlinien, die gemeinhin mittwochs von EU-Kommissaren vorgestellt werden, eine Woche vorher oder spätestens montags anderen Generaldirektionen zur Kenntnis gegeben. Dann wandern die Gesetzesentwürfe im ganz großen Verteiler durch das Haus – und fast immer auch aus dem Haus heraus.

Oft ist übrigens die Frage, wer denn ein politisches Interesse an einer Veröffentlichung eines vertraulichen Entwurfs hat, gar nicht die Entscheidende. Auch journalistische Kollegen bestätigen, dass sie unveröffentlichte Dokumente häufig von Quellen bekommen, die überhaupt nichts mit dem Sachverhalt zu tun haben. Das Motiv ist eher die Kontaktpflege mit Journalisten, die man mit durchgestochenen Infos für sich (und die eigenen Themen) zu gewinnen hofft. Und das funktioniert? Nun, bei einigen Kollegen durchaus – zumindest dem Vernehmen nach.