Demografie – vom fiskalischen Füllhorn zum politischen Endgegner
Vom fiskalischen Füllhorn zum politischen Endgegner
Warum die Bundesregierung keine Reform in der Rentenpolitik wagt
Von Stephan Lorz, Frankfurt
Haltelinie, Mütterrente und Rente mit 63. Wenn es um die Rentenpolitik geht, war die Politik nie um mitfühlende Umschreibungen für versprochene Wohltaten verlegen. Alles natürlich gemeinwohldienliche Ideen: Die Haltelinie soll aktuell das Rentenniveau stützen, die neue Mütterrente weiteren Jahrgängen die Erziehungszeiten großzügiger anrechnen, und die Rente mit 63 ausgemergelten Werktätigen eine frühere Flucht in den Ruhestand ermöglichen. Vieles nachvollziehbar, manches zweifelhaft, im Kern aber meist wahltaktisch motiviert.

Insgesamt gesehen, wird damit das Umlagesystem in der gesetzlichen Rentenversicherung destabilisiert. Das steht durch die Demografie ohnehin schon unter Druck: Immer weniger Beitragszahler zahlen für immer mehr Rentner, die zudem immer länger leben. Eigentlich soll der „Generationenvertrag“ die Lasten zwischen Jung und Alt austarieren, doch in den vergangenen Jahrzehnten gab es nur wenige Entscheidungen, in denen die Politik auf die Beitragszahler Rücksicht genommen hatte.
Das wird auch jüngst wieder negiert. Der Demografie- oder Nachhaltigkeitsfaktor ist seit 2018 ausgesetzt; auch die „Haltelinie“ muss hauptsächlich von den Erwerbstätigen finanziert werden. In nicht allzu ferner Zukunft werden die Sozialbeiträge nach Schätzungen von Ökonomen zusammengenommen auf rund 50% des Bruttolohns steigen. In vielen Lohngruppen sind sie schon längst eine größere Last als die Steuerpflicht. Was bleibt dann noch für den Fiskus übrig?
Implizite Verschuldung
Der Finanzökonom Bernd Raffelhüschen beziffert die schon aufgelaufene implizite Staatsverschuldung durch Rentenverpflichtungen in der Zukunft auf 19,5 Bill. Euro. Das entspricht rund 454% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Explizit liegt die Quote dagegen erst bei 62,5%. Zudem drücken die hohen Sozialbeiträge bereits heute auf die Steuereinnahmen und engen den Finanzierungsspielraum des Staates immer weiter ein, weil sie vom Beitragszahler steuermindernd abgesetzt werden können. Über die Jahre dürften dem Staat damit „gut 6% des Steuersubstrats verlorengehen“, sagt er. Und wie sollen die Erwerbstätigen angesichts rekordhoher Beitragsbelastungen dann noch etwas zurücklegen, um privat für ihren eigenen Ruhestand vorzusorgen?
Fiskalisches Füllhorn
Noch in den 70er Jahren wurden die Rentenkassen ungeniert als fiskalisches Füllhorn angesehen. Die Zahl der Beitragszahler wuchs, die Löhne und die Steuereinnahmen legten zu. Das Renteneintrittsalter wurde sogar von 65 auf 62 Jahren vorgezogen. Erst mit dem Pillenknick kam langsam die Sorge auf, dass es nicht so weitergehen kann. Erste Ideen zur privaten Altersvorsorge kamen auf: Forderung nach einer aktienmarktfundierten Rente machten die Runde, zugleich warben die Versicherer mit ihrer Kapitallebensversicherung. Aber die Verteidiger der etablierten Politik trafen die Stimmung in der Bevölkerung wohl besser. Der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm macht mit dem Spruch „Die Rente ist sicher!“ Stimmung. Soll heißen: Reformen nicht nötig!

Doch Anfang der 90er Jahre zog dann doch mehr Realitätssinn in die Debatte ein, weil immer mehr Prognosen die Stabilität der Rentenkasse bezweifelten und explodierende Beitragssätze voraussagten. 1992 wurde daher die Altersgrenze wieder auf 65 Jahre angehoben, Abschläge für den frühzeitigen Renteneintritt verlangt und die Rente an den Nettolohnanstieg gekoppelt. 1997 kam dann sogar der „demografische Faktor“ in der Rentenformel zum Zuge, doch schon im Jahr darauf wurde er wegen starker Proteste („Sozialabbau!“) gleich wieder gestrichen.
Schröders Reformregierung
Mit dem Wechsel auf eine rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) wehte dann ein anderer Wind in der Sozialdebatte. 2002 kam die Riesterrente für die private Altersvorsorge, Verbesserungen für die betriebliche Altersvorsorge, und später wurde auch noch die Rürup-Rente draufgesattelt. Schon 2004 wurde dann wieder ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ eingeführt, und schließlich 2007 die „Rente mit 67“ beschlossen, die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Das sorgte für viel Unmut und trat zusammen mit den Sozialreformen der Agenda 2010 eine große Protestwelle los, worüber dann Rot-Grün stürzte.
Aber die Reformen wirkten: mehr Wachstum, weniger Arbeitslosigkeit, insgesamt höhere Erwerbstätigkeit und sprudelnde Steuereinnahmen. Das verführte gleich wieder zu neuerlichen sozialen Wohltaten. Mit dem Rentenpaket von 2014 kam die Mütterrente und die „Rente mit 63“. Ansonsten herrschte relative Ruhe an der Reformfront. In Verkennung der finanziellen Lage wurde gar nicht mehr um die Stabilisierung der Rente gerungen, vielmehr ging es abermals um die Verteilung neuer Wohltaten. Aktuelles Beispiel: die Haltelinie, die das Rentenniveau festzurren soll. Grund für die Zaghaftigkeit ist wohl die durchaus berechtigte Sorge, dass Reformen, die notgedrungen mit Kürzungen einhergehen, vom Wähler abgestraft werden. Das könnte schließlich der Sargnagel werden für die dünne Mehrheit von Schwarz-Rot.
Neue Rentenkommission
Auch deshalb hat Bundeskanzler Friedrich Merz wohl beschlossen, die nächste Rentenreform wie unter Schröder erst von einer „Rentenkommission“ vorbereiten zu lassen. Dabei sind die Stellschrauben bekannt: inflations- statt lohnorientierte Rentenanpassungen, noch späterer Renteneintritt, größere Abschläge bei früherem Rentenbeginn und zugleich Stopp der Rente mit 63. Vor allem: mehr Erwerbstätige durch höhere Partizipation und Arbeitsmigration. Gleichwohl soll die Kommission erst 2027 Reformoptionen präsentieren. Dann aber sind die personell starken Jahrgänge („Boomer“) längst in Rente – viel Wirkung hätten sie dann nicht mehr.
Man fragt sich natürlich, warum Deutschland nicht frühzeitig auf die private (Aktien-)Vorsorge gesetzt hat wie andere Länder, die heute mit geringeren Beiträgen und niedrigeren Lasten für den Staat auskommen bei zugleich höheren Rentenniveaus. Womöglich ist das auch das Ergebnis polit-ökonomischer Prozesse: Die Rentenkasse eignet sich eben sehr gut für populäre Umverteilungspolitik. Jede „Privatisierung“ der Altersvorsorge würde der Politik schließlich dieses Instrument berauben. Immerhin geht es um gigantische Summen, die im Bundesetat nicht explizit auftauchen – allenfalls in Form des Rentenzuschusses, der für sich genommen inzwischen ebenfalls große Dimensionen angenommen hat. Vergangenes Jahr ging es um ein Volumen von rund 380 Mrd. Euro, das unter den Rentnern verteilt wurde, davon rund 85 Mrd. Euro an staatlichen Zuschüssen, der Rest waren Beitragseinnahmen.
Solche Summen sind natürlich verführerisch, weil man schon allein durch Steuerung einiger weniger Parameter bei Anerkennung und Auszahlung für die adressierten Bürger/Wähler viel erreichen kann. Obendrein wurden zahlreiche versicherungsfremde Leistungen im Gesamtetat der Rentenversicherung untergebracht. Der Clou: Der Staat musste seine Zahlungsverpflichtungen bei der Umsetzung der Wohltaten nicht einmal richtig offenlegen oder in den Etat einstellen, gleichzeitig blieb und bleibt er den bedachten Bürgergruppen natürlich in guter Erinnerung.