Notiert inMoskau

Der Flughafen beruhigt die Psyche

In Russland wird Absurdes zur Realität: Chinesische SUVs mit norwegischen Kennzeichen, unklare Verhaltensregeln erschweren die Kommunikation und die Nähe zum Flughafen streichelt die Seele.

Der Flughafen beruhigt die Psyche

Notiert in Moskau

Flughafen beruhigt die Psyche

Von Eduard Steiner

Der Moment, wo jemand verdutzt realisiert, dass alles irgendwie aus den Fugen geraten ist, ist natürlich beliebig und höchst individuell. Für einen meiner langjährigen russischen Bekannten, den wir in diesen Zeiten lieber als Konstantin bezeichnen, trat dieser Moment bei einem Blick aus seiner Wohnung leicht außerhalb des Moskauer Stadtzentrums auf die Straße ein, als er dort einen großen chinesischen SUV mit norwegischem Autokennzeichen sah. Ihm sei schon klar gewesen, dass der kriegsbedingte Rückzug westlicher Autohersteller aus Russland eine riesige Lücke hinterlasse, die nun sukzessive von chinesischen Herstellern – vor allem aus der zweiten Reihe, denn die Top-Hersteller wollen auch im Westen Geschäft machen und fürchten, unter sekundäre Sanktionen zu geraten – gefüllt werde. Aber dass die Chinesen nun über Skandinavien nach Russland vordringen, habe ihn doch nachdenklich gemacht, so Konstantin. Einmal abgesehen von der Frage, wer denn die Leute seien, die da mit norwegischem Kennzeichen auf einem chinesischen Auto durch Russlands Hauptstadt fahren. Norweger wohl kaum. Vielleicht ausgewanderte Russen? Aber warum sind sie schon wieder hier?

Eine Marginalie und Lappalie in der allgemeinen Verwirrung und Verstörtheit der neuen Kriegssituation und Isolation. Aber im Prozess, die neue Realität und ihr Wesen zu erfassen, kann eine solche Marginalie der springende Punkt sein, der zur Erkenntnis verhilft, dass Absurdes Realität geworden ist. Sie seien geboren, um (den absurden) Kafka Realität werden zu lassen, hatten sich die Russen schon in der Sowjetzeit selbst verspottet. Apropos: Der Unterschied zur Sowjetzeit, wie er sie in den 1970er und 1980er Jahren noch kennengelernt hatte, sei, dass in der Sowjetdiktatur die Verhaltensregeln, politischen Tabus und Zensurvorschriften klar und eindeutig festgestanden hätten, sagt Konstantin. So habe man auch die Kinder zu Hause klar darin unterweisen können, welche Themen aufgegriffen werden dürften und welche eindeutig nicht, um Sanktionen des Regimes gegen die Familie abzuwenden. Jetzt aber wisse man nicht, was an Äußerungen anderen gegenüber oder in der Öffentlichkeit noch zulässig sei und was schon gefährlich. In der sonst starken Überregulierung des gesamten Lebens und der Wirtschaft sei die unklare Regulierung dessen, wie man sich in Sachen Krieg und allem drumherum verhalten und äußern darf, etwas, das das Leben eher noch enervierender mache.

Wer die Nerven nicht mehr hat, geht weg. Die größte Emigrationswelle seit langem hält weiter an. Und mit der Emigration wächst auch der Graben zwischen denen, die auswandern, und jenen, die bleiben. Obwohl viele aus demselben, mehr oder weniger liberalen Lager kommen und bis vor kurzem sogar noch Freunde waren. Die Wahrnehmung der Realität wird nämlich durch eine längere Abwesenheit aus dem Land ziemlich schnell verändert. Selbst bei Ökonomen tut sich in der Interpretation der russischen Statistikdaten eine merkbare Divergenz zwischen denen auf, die emigriert sind, und denen, die trotz Opposition gegen den Krieg im Land blieben. Dazu kommen gegenseitige Vorwürfe, wer denn nun moralisch höherstehend sei. Sollbruchstellen, die niemanden der Beteiligten recht freuen können.

In einem Punkt scheint sich in Russland jedenfalls Gewissheit zu verbreiten: Nämlich darin, dass die Emigrierten – ob Oligarchen, ehemalige Staatsbedienstete oder oppositionelle Aktivisten – in der zukünftigen Gestaltung des Landes, sprich in einer Post-Putin-Ära, keinerlei nennenswerte Rolle spielen werden.

Mit einer, die geblieben ist, kam dieser Tage das Gespräch auf den genialen tschechischen Jazz-Bassisten und Komponisten Miroslav Vitouš. Dieser hatte einmal gesagt, dass er am liebsten in der Nähe eines Flughafens wohne, um das Gefühl zu haben, dass er jederzeit schnell aus dem Land verschwinden könne. Genauso gehe es ihr auch, sagte die Russin. In einem chinesischen Auto mit norwegischen Nummerntafeln dann gleich wieder nach Russland zurückzukehren, kommt auch ihr absurd vor.

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