LEITARTIKEL

Desillusion im Vierzylinder

Für Oliver Zipse ist es eine bittere Erfahrung. Als der Manager vor neun Monaten den Posten des BMW-Vorstandschefs vom amtsmüden Harald Krüger übernahm, trat er mit dem Anspruch an, dem Autohersteller in der Transformation zu einem modernen...

Desillusion im Vierzylinder

Für Oliver Zipse ist es eine bittere Erfahrung. Als der Manager vor neun Monaten den Posten des BMW-Vorstandschefs vom amtsmüden Harald Krüger übernahm, trat er mit dem Anspruch an, dem Autohersteller in der Transformation zu einem modernen Mobilitätsdienstleister mehr Dynamik zu verleihen. In der Pandemie ist im Münchner Konzern-Hochhaus, auch Vierzylinder genannt, von Tempo keine Rede mehr. Vom Hoffnungsträger für Aufsichtsratschef Norbert Reithofer ist der CEO zu einem Krisenmanager mutiert.Das weiß-blaue Dax-Unternehmen verfügt über das Selbstvertrauen und die Mittel, den aktuellen externen Schock aus eigener Kraft ohne direkte Staatshilfe zu meistern. Auf der Hauptversammlung dieser Tage erinnerte Zipse in seiner Rede an die überstandenen Ölpreiskrisen (1973 und 1979) und den bewältigten Finanzmarktschock (2008/09). Der Lenker des krisenerprobten Konzerns erwähnte das Rover-Debakel, welches BMW in den 1990er Jahren an den Rande des Abgrunds gebracht hatte, aber nicht. Diese Art des Verdrängens zeigt, dass im Unternehmen immer noch eine Kultur vorherrscht, das selbstverschuldete Expansionsdesaster zu relativieren und mehr als Ausrutscher auszulegen denn als existenzbedrohliche Irrfahrt. Von den Lerneffekten aus den zurückliegenden Finanzmarktturbulenzen profitieren die Bayern aber heute auf dem Höhepunkt der Seuche.Mit einer Bruttoliquidität von rund 19 Mrd. Euro hat Finanzvorstand Nicolas Peter dank frischer Bankkredite das Unternehmen ausreichend finanziell gepolstert, um im Ernstfall eine Schieflage vermeiden zu können. Die Dimension von Covid-19 hat das Topmanagement allerdings anfangs komplett unterschätzt. An eine rasche Rückkehr in einen “Normalzustand” nach dem Abflauen der Seuche glaubt selbst Zipse nicht mehr. Im Vierzylinder ist man desillusioniert.Der CEO richtet sich auf eine längere Krise ein, zumal eine mögliche zweite Coronawelle wie ein Damoklesschwert über dem ohnehin drastisch heruntergefahrenen Jahresausblick schwebt. Eine abermalige Gewinnwarnung nach jener von Anfang Mai ist deshalb durchaus denkbar. Im laufenden zweiten Quartal droht BMW ein Verlust in Milliardenhöhe. Das Virus wird noch lange in Westeuropa und in den USA wüten – also in Erdteilen, die zusammen 60 % des Pkw-Absatzes von BMW ausmachen (Stand erstes Quartal). Analysten befürchten, dass die Verkaufszahlen 2020 auf rund 2 Millionen Stück der Marken BMW, Mini und Rolls-Royce einbrechen. Das wäre ein Rückgang um über ein Fünftel. Der erfolgsverwöhnte Autobauer würde auf das Niveau von 2013 zurückfallen. Die Coronakrise ist für die Autoindustrie im Allgemeinen und für BMW im Besonderen verheerender als die zurückliegende Finanzmarktkrise. So brach 2009 der Pkw-Absatz der Münchner “nur” um 10 % ein.Je länger die Ausgangsbeschränkungen andauern beziehungsweise die Teillockerungen des Wirtschaftslebens sich hinziehen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Autobranche in der zweiten Jahreshälfte deutlich erholt, um wieder in die Spur zu kommen. Für 2020 geht die BMW-Führung noch davon aus, im Kerngeschäft auf operativer Ebene an der Verlustzone vorbeizuschrammen.Sollte die Autosparte wider Erwarten im laufenden Berichtsturnus dennoch rote Zahlen schreiben, wäre das für den CFO ein Offenbarungseid. Offensichtlich hätte dann Peter das Unternehmen doch nicht ausreichend genug gefestigt, dass ein Jahresfehlbetrag im Bereich Automobile generell ausgeschlossen werden kann. In diesem Fall müsste BMW ihre Sparanstrengungen erneut ausweiten. Einschnitte beim Personal und noch größere Kürzungen im Investitionsbudget wären die Folge.Die Konzernspitze musste zuletzt eingestehen, dass der freie Cash-flow in der Autosparte aufgrund des hohen Working Capital bei zugleich wegbrechenden Absatzzahlen 2020 tiefrot ausfällt. Das heißt, BMW stützt ihre zusammengeschrumpften Kernaktivitäten auf Pump, obgleich doch als Vorgabe gilt, Zukunftsinvestitionen aus dem fortlaufenden Mittelzufluss zu finanzieren. Die guten Ratings (S&P: “A”, Moody’s: “A2”) und die Dividende fürs laufende Jahr sind gefährdet. Angesichts dieses Drucks ist es keine ausgemachte Sache mehr, dass BMW ihre mittelfristigen Ziele für die Elektromobilität erreicht, obwohl Zipse nach außen noch daran festhält. Für die Perspektiven der Stammaktie bedeutet das nichts Gutes. Mit derzeit 49 Euro notiert das Papier ohnehin schon auf dem Niveau vom September 2010.——Von Stefan KroneckDie Coronakrise ist in ihrer Dimension für BMW viel heftiger als die Finanzmarktkrise. Das gefährdet die mittelfristigen Elektroziele des Konzerns.——