Die Bären sind los
Notiert in Tokio
Die Bären sind los
Von Martin Fritz
Was den Deutschen ihre Wölfe, sind den Japanern ihre Bären – durch ihre Rückkehr in die menschliche Zivilisation verbreiten sie in dem Inselstaat Angst und Schrecken und lösen eine starke Nachfrage nach Abwehr- und Schutzmitteln aus. Schon länger warnten Experten in Japan davor, dass Bärenangriffe in noch nie dagewesenem Ausmaß zunehmen würden, da die Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum kaum noch Nahrung finden. Nun scheinen sich diese Kassandrarufe zu erfüllen.
Seit April haben Braun- und Schwarzbären drei Menschen getötet und 167 verletzt. Die meisten Attacken ereigneten sich durch Schwarzbären im bergigen, bewaldeten Norden der Hauptinsel Honshu, auf der die Hauptstadt Tokio liegt. Die Braunbären sind auf der Nordinsel Hokkaido zu Hause. Dort wurde der abgetrennte Kopf eines Anglers gefunden, der offenbar einem Bärenangriff zum Opfer gefallen war. Asiatische Braun- und Schwarzbären sind als erwachsene Männchen bis zu 140 Zentimeter groß und wiegen bis zu 140 Kilogramm.
Angriffe von Bären häufen sich
„Er stand mir gegenüber und unsere Blicke trafen sich", berichtete ein Mann gegenüber der Zeitung "Yomiuri". „Ich dachte, ich hätte keine Chance, und begann sofort wegzulaufen.“ Der Bär schlug den Mann zu Boden, bevor er fliehen konnte. „Er knurrte furchtbar und biss mich in den Kopf", sagte der Mann. „Ich konnte nichts mehr tun." Eine 79-Jährige wurde in ihrem Hinterhof zu Tode gebissen.
In der Vergangenheit begegneten Bären fast nur zufällig Menschen, die im Wald wanderten oder nach Wildgemüse und Kräutern suchten. Eine Frau wurde denn auch beim Sammeln von Pilzen getötet. Aber wenn das Muttertier nicht gerade ein Jungtier beschützen will oder Hunde einen Bären überraschend aufstöbern, gehen die eigentlich scheuen Tiere dem Menschen normalerweise weiträumig aus dem Weg.
Doch die Landflucht und die Alterung der Bevölkerung verwischen die einst klaren Grenzen zwischen den Wäldern mit den Bären und den Dörfern und Kleinstädten der Menschen. In diesem Jahr wurden in ganz Japan fast 15.000 Mal Bären gesichtet, über 4.000 Mal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Einmal stieß sogar ein Shinkansen-Superschnellzug mit einem Bären zusammen.
Heißer Sommer treibt Bären in die Dörfer
Die Rekordzahl an Vorfällen in diesem Jahr hängt wohl mit dem besonders heißen Sommer zusammen, den Meteorologen neben dem allgemeinen Klimawandel auf das Wetterphänomen El Niño zurückführen. Dadurch mangelt es in den Wäldern an Eicheln und Bucheckern. Der Hunger treibt die Tiere dann in Siedlungen, damit sie sich genug Fett vor dem Winterschlaf anfressen können. Mehr Sichtungen werden erwartet, da das warme Wetter den Winterschlaf bis Januar verzögern dürfte.
Das Umweltministerium bezeichnete die Zunahme der Angriffe als „außergewöhnlich" und forderte die Landbewohner auf, Lebensmittelabfälle unzugänglich zu entsorgen und die Türen geschlossen zu halten. Die Bauern sollten kein Fallobst auf dem Boden liegen lassen. Naturschützer schlagen gesicherte Futterplätze mit Eichelvorräten vor. Die nördliche Präfektur Akita versprach Jägern eine Abschussprämie von bescheidenen 5.000 Yen (32 Euro).
Abwehrprodukte gegen Bären gefragt
Allerdings scheint auch die Bärenpopulation stark gewachsen zu sein. Die Zahl der Schwarzbären soll in den vergangenen zehn Jahren um das Dreifache auf rund 44.000 Tiere zugenommen haben. Ein Provinzgouverneur sagte, man könne nicht länger auf das Beste hoffen. „Wir sollten uns nicht zu sehr auf frühere Erfahrungen verlassen, bei denen Menschen die Begegnung mit einem Bären unverletzt überstanden. Wir müssen aufmerksamer sein“, meinte der Gouverneur.
Der Fernsehsender NHK warnte davor, Bären bei einer Begegnung unter keinen Umständen in die Augen zu schauen oder wegzulaufen. Bärenglocken, Trillerpfeifen und tragbare Radios verkaufen sich wie geschnitten Brot. Ganz Mutigen empfahl NHK ein Abwehrspray.