Notiert in TokioG7-Gipfel in Hiroshima

Die Origami-Kraniche von Hiroshima

Als Symbol für eine atomwaffenfreie Welt sind im Origamistil gefaltete Papierkraniche ein wichtiges Element der Gedenkkultur in Hiroshima geworden. Auch beim G7-Gipfel vom 19. bis 21. Mai werden sie eine, wenn auch kleine Rolle spielen.

Die Origami-Kraniche von Hiroshima

Notiert in Tokio

Mahnende Origami-Kraniche

Von Martin Fritz

Die Regierungschefs der G7-Staaten treffen sich am nächsten Wochenende im Grand Prince Hotel auf der Insel Ujina im Hafen von Hiroshima. Damit ist Japans Regierungschef Fumio Kishida ein diplomatischer Coup gelungen. Denn Hiroshima steht wie kein anderer Ort der Welt für die Ächtung von Atomwaffen. Kishidas Familie kommt von dort, sein Wahlkreis ist dort und er setzte sich immer für eine Welt ohne Atombomben ein.

Es dauerte 71 Jahre, bis ein amtierender US-Präsident die Stadt offiziell besuchte, nämlich Barack Obama im Mai 2016. Er kam mit vier selbstgefalteten Papierkranichen – zwei Stück bekamen die Kinder, die ihn begrüßten, und zwei legte er zu einer schriftlichen Botschaft, in der er sich die Abschaffung der Atomwaffen wünschte. Mit dieser Geste ist Obama nicht allein: Jedes Jahr treffen 10 Millionen Papierkraniche in Büscheln zu je 1.000 Stück aus Japan und aller Welt in Hiroshima ein. Die Stadt hängt sie in die Vitrinen am Kinderdenkmal im Friedenspark, der dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 gewidmet ist.

Von den weit über 50 Gedenkstätten im Friedenspark ist das Kinderdenkmal in Sichtweite der mahnenden Ruine des sogenannten Atombombendomes vielleicht die Bewegendste. Zehn Jahre nach dem Angriff erkrankte die gesunde, sportliche 11-jährige Sadako Sasaki an Leukämie, eine Folge der hohen Strahlendosis als Kleinkind – die damals Zweijährige befand sich nur 1.600 Meter vom Hypozentrum der Explosion entfernt. Als Sadako schon im Krankenhaus lag, erzählte ihr eine Freundin von einer japanischen Legende: Wer 1.000 Papierkraniche faltet, der hat bei den Göttern einen Wunsch frei. Darauf schöpfte Sadako neue Kraft. In der Hoffnung auf Genesung machte sie sich an die Arbeit. Als sie am 25. Oktober 1955 starb, hatte sie über 1.300 Kraniche gefaltet.

In tiefer Betroffenheit und Trauer sammelten ihre Mitschüler und erwachsene Unterstützer Geld für ein Denkmal für die Kinderopfer der Atombombe. Der „Turm der tausend Papierkraniche“ mit der Bronzestatue eines Mädchens, das auf hochgestreckten Händen einen metallenen Kranich trägt, wurde 1958 eingeweiht. Schulkinder aus ganz Japan besuchen das Denkmal jedes Jahr und bringen viele gefaltete Papierkraniche mit. Die US-Autorin Eleanor Coerr verbreitete die traurige Geschichte mit dem Kinderbuch „Sadako“ im Ausland. So wurde das japanische Mädchen zum bekanntesten Opfer der Atombombenabwürfe nicht nur in Japan, sondern weltweit – und der gefaltete Papierkranich zum Symbol für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen.

Im Laufe der Jahre sammelten sich weit über 100 Tonnen Papierkraniche an. Schließlich fragte die Stadt 2011 ihre Bürger um Rat, wie sich die Gefühle und der Gedanken der individuellen Kranichfalter aus der ganzen Welt am besten erhalten und verbreiten ließen. Die mehrheitliche Antwort lautete, die Kranichberge mit dem Ziel der Friedensförderung zu recyceln. Seitdem wird ihr Zellstoff zu Schreibpapier und Papierfächern wiederaufgearbeitet, aber auch zu Garn gesponnen, aus denen Handtücher und T-Shirts entstehen.

Auf der Basis dieses Materials brachte die Manufaktur Spingle aus der Stadt Fuchu bei Hiroshima gar Sneaker auf den Markt. Eine Partnerfirma verwebt das Garn zu einem festen Segeltuch für den Schaft der Turnschuhe. Ein Foto der bunten Papierkraniche schmückt die Schuhzunge unter dem Schnürsenkel. Die Farbe Blau der Einlegesohle soll Frieden symbolisieren. Zu jedem Paar Schuhe erhält der Käufer fünf Bögen Origamipapier aus Altkranichen. „Wir möchten, dass die Menschen diese Sneaker täglich tragen und dabei an den Frieden denken“, erzählt Vertriebschef Naoki Kunihara. Immerhin 12% des Obermaterials bestehen nun aus recyceltem Zellstoff. Der Bürgerrat für den Gipfel hat die Friedensschuhe als offizielles Produkt für das G7-Treffen zertifiziert. Dort wird es zu einem indirekten Gedenken an Sadako kommen: Jeder Regierungschef erhält eine exakte filigrane Metallkopie des letzten Kranichs, den Sadako vor ihrem Tod faltete.

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