LeitartikelNestlé

Die Wogen am Genfer See schlagen hoch

Der CEO gefeuert, der Verwaltungsratschef vor dem vorzeitigen Abgang. Außerdem anhaltende Absatzprobleme. Der weltgrößte Lebensmittelkonzern Nestlé befindet sich in einer Krise. Hat das neue Führungsduo die Fähigkeit und das Durchsetzungsvermögen, das Steuer herumzureißen?

Die Wogen am Genfer See schlagen hoch

Nestlé

Der Tanker ist leckgeschlagen

Von Martin Dunzendorfer

Nestlé steckt in einer der schwersten Krisen der 159-jährigen Unternehmensgeschichte. Der weltgrößte Lebensmittelkonzern war viele Jahre der Inbegriff von Stabilität und Verlässlichkeit. Doch nun hat sich zu den operativen Problemen eine ernste Führungsmalaise gesellt. Nestlé hat mit Philipp Navratil jetzt den dritten CEO in 13 Monaten, und Paul Bulcke räumt zum 1. Oktober nach 46 Jahren im Konzern vorzeitig den Platz als Verwaltungsratschef, obwohl sein Ausscheiden bereits für die nächste Hauptversammlung im April 2026 angekündigt worden war. Am 1. September hatte Nestlé über die sofortige Entlassung von CEO Laurent Freixe informiert, der im August vorigen Jahres Mark Schneider abgelöst hatte. Begründet wurde die Maßnahme mit einer „nicht offengelegten romantischen Beziehung mit einer ihm direkt unterstellten Mitarbeiterin“, die gegen den Verhaltenskodex des Unternehmens verstieß.

Nach und nach kamen seither Informationen ans Tageslicht, von denen sich nicht sagen lässt, was der Wahrheit entspricht und was dem inzwischen fast salonfähig gewordenen Nestlé-Bashing zuzurechnen ist. Aktionäre, Analysten, Medienvertreter und sonstige Stakeholder müssen sich aufgrund der jüngsten Enthüllungen selbstkritisch fragen, ob sie nicht jahrelang zu vertrauensselig waren und zu nachsichtig mit dem Management umgegangen sind, obwohl zumindest der Zahlenkranz schon länger in die falsche Richtung wies.

Zwei CEOs inthronisiert, die letztlich scheiterten

Bulcke, der fast neun Jahre bis Ende 2016 CEO war und direkt danach Verwaltungsratspräsident wurde (eine Cooling-off-Periode wie in Deutschland gibt es in der Schweiz nicht), muss sich mit Freixe den zweiten Fehlgriff bei der Wahl des CEO anlasten lassen. Er hatte maßgeblichen Anteil an der Wahl Schneiders, der Anfang 2017 die operative Führung übernahm. Der Portfolioumbau des ehemaligen Fresenius-Vorstandschefs – obgleich kostspielig und mit (zu) viel Wachstumshoffnungen verbunden – wurde in den ersten Jahren an der Börse durchaus goutiert. Zur Jahreswende 2021/22 erreichte der Aktienkurs das Rekordhoch bei 130 sfr. Dann kamen durch die wiederholt enttäuschende Umsatzentwicklung aber immer mehr Zweifel an Schneiders Strategie auf. Seine Entlassung vor einem Jahr kam – obwohl der Nestlé-Kurs unter 90 sfr gefallen war – dennoch überraschend.

Chairman Bulcke inthronisierte dann Freixe, seinen „Freund“, der sich wieder stärker auf das Kerngeschäft – vor allem Kaffee („Nescafé“, „Nespresso“), Babynahrung („Beba“) und Haustierprodukte („Purina“) sowie Dauerbrenner wie „Maggi“ – konzentrieren wollte, statt wie Schneider mit viel Geld Nischen zu besetzen und das „Health Science“-Segment auszubauen. Nachdem Freixe nun aber vom Hof gejagt wurde, war das Vertrauen in das Urteilsvermögen Bulckes aufgebraucht.

Dabei lag Freixe im Kern richtig. Immer mehr Investoren und Analysten fordern, die zu weit vom Kerngeschäft entfernte „Health Science“-Division, das Geschäft mit Tiefkühlprodukten in Nordamerika sowie Teile der Wasser-Sparte zu veräußern oder an die Börse zu bringen. Tatsächlich würde ein Verkauf oder IPO bekannter Marken wie „Perrier“, „San Pellegrino“ oder „Vittel“ einiges einbringen. Komplett lässt sich die durch jüngste Skandale gebeutelte Wasser-Division wegen Marken wie „Nestlé Pure Life“ wohl nicht veräußern.

Doch ist keineswegs sicher, dass Freixe Erfolg gehabt hätte. Nahezu alle Markenanbieter in der Konsumgüterbranche kämpfen mit Marktanteilsverlusten, da Verbraucher verstärkt zu No-Name- und Handelsmarken greifen. Der Ex-CEO wollte u.a. mit mehr Werbung gegen die rückläufigen Verkaufsvolumina vorgehen. Das aber ist angesichts der großen Verunsicherung unter den Konsumenten, die verstärkt auf das Preis-Leistungs-Verhältnis achten, eine viel zu simple Strategie. In diesem Umfeld verbietet sich auch, die Kostensteigerungen – u.a. für Agrarrohstoffe und Energie – über Preiserhöhungen an die Verbraucher abzuwälzen, was die Margen unter Druck bringen wird.

Aktienpaket an L´Oréal zur Disposition

Immer wieder wird auch über die Beteiligung von Nestlé an L´Oréal diskutiert. Am französischen Kosmetikkonzern halten die Schweizer einen Anteil von rund 20%, der gemessen am L´Oréal-Aktienkurs einen Wert von knapp 40 Mrd. Euro hat. Die Vereinbarung mit dem zweiten Großaktionär – der Familie Bettencourt (rund 35%) – ist 2018 abgelaufen; Nestlé könnte ihre Beteiligung also jederzeit entweder verkaufen oder aufstocken, z.B. auf eine Sperrminorität von 25,1%. Unternehmenskenner raten zur Umsetzung einer der beiden Varianten; die schlechteste Lösung sei die Beibehaltung des Status quo, weil dadurch die Konzentration auf das Kerngeschäft mit Lebensmitteln ad absurdum geführt würde und die Diskussion über die Beteiligung anhalten wird. Kritiker warnen allerdings, dass ein Verkauf oder Teilverkauf des L´Oréal-Pakets ein verheerendes Signal senden würde. Es würde fehlendes Vertrauen in den operativen Turnaround und sogar Hilflosigkeit demonstrieren.

Reputation liegt in Trümmern

Mit dem neuen Führungsduo – CEO Navratil und Chairman Pablo Isla, der bis 2022 CEO des Textilkonzerns Inditex war – ist theoretisch der Weg frei für mutige Schritte. Doch hat der Spanier Isla, der seit 2018 dem Verwaltungsrat von Nestlé angehört, alle Entscheidungen Bulckes mitgetragen, ebenso wie die Manager im Executive Board – zum größten Teil Schützlinge von Bulcke und Freixe – die der geschassten CEOs. Eine Wende in strategischen Fragen hätte also etwas von Opportunismus. Navratil kündigte zwar an, Nestlé „besser, intelligenter und schneller“ machen zu wollen, doch muss er dafür viele Widerstände überwinden.

Vom Board of Directors – vergleichbar dem deutschen Aufsichtsrat – sollte man erst recht nicht viel erwarten: Er besteht aus Ruheständlern, die sich um andere Unternehmen verdient gemacht haben, und theorielastigen Professoren, die in den vergangenen Jahren alles abgenickt haben, was Bulcke vorschlug.

Dividendenkürzung ist wohl ein „No-Go“

Einschneidende Veränderungen könnte es etwa in der Ausschüttungspolitik geben. Doch auch da zeigt sich, wie schwierig es ist, neue Wege zu gehen. Nestlé hat noch nie die Dividende gekürzt und legt immer wieder neue Aktienrückkaufprogramme auf. Beides summiert sich über die vergangenen 15 Jahre betrachtet auf einen Wert von fast 180 Mrd. sfr. Die Anteilseigner mögen jetzt nach strategischen Änderungen rufen, doch sollte das Top-Management Kürzungen an Dividende und Aktienrückkäufen beschließen, z.B. um das gesunkene Eigenkapital wieder zu stärken, würde man im Aktionariat schnell an die Grenze des Veränderungswillens stoßen.

Die Wogen am Genfer See schlagen hoch. Der Rauswurf des CEO und der vorzeitige Abgang des Chairman fördern bei Nestlé tiefsitzende Probleme zutage.