Die zerrupfte Zukunftskonferenz der EU
Im Europaparlament herrschte gestern feierliche Atmosphäre. Nach einem etwa eineinhalbjährigen Vorlauf konnten Parlamentspräsident David Sassoli, Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Antonio Costa, Ministerpräsident von Portugal, das gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, im Brüsseler Plenarsaal endlich das Gründungsdokument für die Konferenz zur Zukunft Europas unterzeichnen. Große Worte fielen: Es sei ein „besonderer Tag für die europäische Demokratie“. Die Konferenz werde ein „Game Changer“. Und Sassoli behauptete sogar, dies sei „ein Neubeginn für die Europäische Union“. Und zum Abschluss erklang die Europahymne.
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Es wurden noch einmal hohe Erwartungen geweckt an die Reformkonferenz, die den Anspruch hat, die EU inhaltlich und institutionell neu zu justieren, sie demokratischer und handlungsfähiger zu machen. Die Anregungen hierzu sollen aus Bürgerversammlungen kommen. Die Idee zu einer solchen Konferenz entstand nach der Europawahl 2019, dem unglücklichen Verlauf des damaligen Spitzenkandidatenprozesses und der umstrittenen Wahl von der Leyens zur Kommissionschefin.
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In der Bevölkerung stößt die grundsätzliche Idee der Konferenz auf große Zustimmung: Einer neuen europaweiten Eurobarometer-Umfrage zufolge forderten 92% der Befragten, dass die Stimme von normalen Bürgern bei Entscheidungen über die Zukunft der EU stärker berücksichtigt werden müsse. Und rund drei Viertel der Europäer erwartet, dass die Konferenz positive Auswirkungen auf die Demokratie in der EU haben wird: Ein Viertel stimmt dieser Aussage voll und ganz und die Hälfte der Befragten immerhin noch „eher“ zu. Die Hälfte würde sich auch an einer solchen Reformkonferenz beteiligen. Dass diese hohe Erwartungshaltung alle Beteiligten auch unter Druck setzt, ist kein Geheimnis: Man müsse konkrete Ergebnisse liefern, betonte Sassoli. „Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel.“
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Dabei stehen hinter den erhofften konkreten Ergebnissen noch viele Fragezeichen, was auch damit zu tun hat, dass Mitgliedstaaten, EU-Parlament und die Kommission sehr unterschiedliche Ambitionen und Ziele mit der Konferenz verbinden. Aus den monatelangen Streitereien untereinander sind jetzt erst einmal eine Vielzahl an typischen Brüsseler Kompromissen entstanden, die sich erst noch bewähren müssen: Da war beispielsweise die Angst der Mitgliedstaaten vor Vertragsänderungen, die ihre Kompetenzen möglicherweise einschränken würden. Dass die Konferenz kein Verfassungskonvent ist, musste daher immer wieder betont werden. Nicht nur die SPD-Abgeordnete Gaby Bischoff, stellvertretende Vorsitzende des Verfassungsausschusses, erinnerte das an das berühmte Pfeifen-Bild des belgischen Surrealisten René Magritte, das die Aufschrift trägt „Ceci n’est pas une pipe“. Änderungen der EU-Verträge sind jetzt zumindest nicht ausdrücklich ausgeschlossen.
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Für besonderen Ärger hat in den letzten Monaten die Führungsfrage gesorgt. Und da man sich nicht einigen konnte, gibt es jetzt halt gleich sechs Präsidenten aus allen drei EU-Institutionen. Ohnehin wird die Konferenz von einer – wie selbst Beteiligte einräumen – „aufgeblähten Governance“ begleitet. Erst einmal wird jetzt ein Exekutivausschuss gegründet, in den auch die nationalen Parlamente noch einbezogen werden. Es wird EU-weit Bürgerforen geben und politische Panels. Und mit Hilfe künstlicher Intelligenz wurde eine mehrsprachige digitale Plattform für die Debatten geschaffen. Startschuss ist der Europatag am 9. Mai. Eigentlich war die Konferenz auf zwei Jahre ausgelegt. Nun sollen aber schon im Frühjahr 2022 Ergebnisse vorliegen. Dass Frankreich darauf bestanden hat, ist natürlich kein Zufall: Präsident Emmanuel Macron, der sich sehr für die Konferenz starkgemacht hat, erhofft sich Rückenwind für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.
(Börsen-Zeitung,