Schweiz-EU-Verhältnis

Ein reifer Beschluss

Die Schweiz hat sich für mehr politische Souveränität entschieden und auf wirtschaftliche Vorteile verzichtet.

Ein reifer Beschluss

Die Schweiz und die EU bleiben auf Distanz. Das ist die Konsequenz der Entscheidung des Schweizer Bundesrates, das Ziel eines institutionellen Rahmenabkommens mit der EU nicht weiter zu verfolgen. Der über viele Jahre bis zur Unterschriftsreife ausgehandelte Vertrag hatte die langfristige Klärung der bilateralen Beziehungen der beiden Parteien in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Verkehr und Handel zum Inhalt. Die Schweiz sollte als Teilnehmerin am Europäischen Binnenmarkt jederzeit die gleichen Bedingungen erfüllen müssen wie die EU-Mitgliedsländer. Zu diesem Zweck hätte sich das Land zur dynamischen Übernahme von EU-Recht verpflichten und bei Streitig­keiten den Europäischen Gerichtshof als letzte Instanz akzeptieren müssen.

Warum dieses umfangreiche Projekt quasi auf der Ziellinie gescheitert ist, weiß niemand so genau. Nach dem öffentlichen Konsultationsprozess der vergangenen zwei Jahre war die Absage aber keine Überraschung mehr. Die Bedingungen für einen Vertragsabschluss seien nicht gegeben, resümierte die Schweizer Regierungsbehörde die Beweggründe.

Natürlich weckte die EU in der Schweiz schon immer Abwehrreflexe. Die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei bekämpft seit 30 Jahren alle Bestrebungen einer engeren institutionellen Verzahnung der Eidgenossenschaft mit der Gemeinschaft. Aber auch die an sich EU-freundlich gesinnten Schweizer Gewerkschaften haben das Rahmenabkommen heftig bekämpft. Sie verteidigten ihre starke politische Position, die sie sich in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit der Marktöffnung der Schweiz erstritten hatten. Als Gegenleistung für das gewerkschaftliche Einverständnis zu mehr Wettbewerb akzeptierten die Wirtschaftsverbände zähneknirschend strikte Maßnahmen gegen Lohndumping. Allerdings haben sich seit jenen Tagen vermehrt auch Unternehmen mit dem Widerstand angefreundet. Viele kleine und mittelgroße Schweizer Unternehmen bekämpften das Rahmenabkommen unter anderem aufgrund der Befürchtung, dass die von der EU verlangte Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie höhere Sozialkosten nach sich ziehen würde.

Vordergründig wurde das Abkommen durch die Unvereinbarkeit der Positionen beim Lohnschutz und bei der Unionsbürgerrichtline zu Fall gebracht. Doch eigentlich ist klar, dass diese Vorbehalte nur ein Vorwand für die wichtigeren, diffuseren Gründe des Widerstandes waren.

Die Unionsbürgerrichtlinie zum Beispiel hätte die Schweiz nach einer Schätzung des wirtschaftsliberalen Thinktanks Avenir Suisse im schlimmsten Fall nicht mehr als 75 Mill. sfr pro Jahr gekostet. Das wären 0,04% der jährlichen Sozialausgaben der Schweiz. Auch die Verkürzung der Voranmeldefrist für Entsendebetriebe von derzeit acht auf die von der EU geforderten vier Tage hätten das Schweizer Lohngefüge kaum auseinandergerissen.

Das Unbehagen der Eidgenossen geht tiefer. Es sind die Zweifel an der politischen Dynamik in der EU, die ihre Abwehrreflexe schüren. So hat das Argument der harmlosen Unionsbürgerrichtlinie vor allem darum nicht verfangen, weil das sozialpolitische Umverteilungsprojekt erst vom Europäischen Gerichtshof entschärft wurde. An der Gesinnung und am politischen Gestaltungswillen der EU-Kommission hat das Gericht nichts verändert.

Umgekehrt hat die EU-Kommission eine europäische Entsenderichtlinie erlassen, die angesichts des Wohlstandsgefälles und der divergierenden Interessen unter den Mitgliedsländern eher einer politischen Alibi-Übung als einem ernst zu nehmenden Instrument zur Bekämpfung des stark verbreiteten Tieflohnproblems gleicht.

Mit dem Rahmenabkommen wäre die Schweiz aufgrund einer speziellen Bedingung (Guillotine-Klausel) de facto auf ewige Zeiten ein festes Mitglied der EU-Großfamilie geworden. Zu diesem Schritt hätte sich die Bevölkerung in einer Abstimmung nicht entschließen können. Dafür fehlt dem Schweizer Volk schlicht ein verlässliches Gespür für die komplexen Dynamiken innerhalb der EU. Deshalb hat sich die Schweiz für mehr politische Souveränität entschieden und auf wirtschaftliche Vorteile verzichtet. Man kann diesen Entscheid als falsch, aber sicher nicht als unreif kritisieren. Das wird man dereinst auch in der EU so sehen. Die negativen Erfahrungen mit dem allzu stark wirtschaftlich motivierten Ex-Mitglied Großbritannien sind in Brüssel noch frisch.