Im BlickfeldIndustriestandort Schweiz

Eine Schweizer Perspektive auf die Stihl-Frage

Die Kritik des schwäbischen Kettensägenherstellers am Produktionsstandort Deutschland wirft auch ein Schlaglicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der helvetischen Industrie. Deren Erfolgsrezept ist die bedingungslose Spezialisierung.

Eine Schweizer Perspektive auf die Stihl-Frage

Eine Schweizer Perspektive auf die Stihl-Frage

Die Kritik des schwäbischen Kettensägenherstellers am Produktionsstandort Deutschland wirft auch ein Schlaglicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der helvetischen Industrie.

Von Dani Zulauf, Zürich

Man stehe weiterhin zum Standort Deutschland. „Aber einen Standort in Deutschland muss man sich heute leisten können“, sagt Nikolas Stihl, Aufsichtsratschef beim weltgrößten Kettensägenhersteller Stihl. Im schwäbischen Waiblingen hält er mit seinen Ansichten zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie nicht hinter dem Berg.

Für Aufregung sorgte das traditionsreiche Familienunternehmen im Februar mit dem Entscheid, die Baupläne für ein neues Produktionswerk in Ludwigsburg auf Eis zu legen und alternativ den Ausbau des Standortes im schweizerischen Wil unweit von der deutschen Grenze zu prüfen. „Inzwischen wäre es sogar günstiger, in der Schweiz zu produzieren. Das zeigt die Absurdität der deutschen Lohnkosten-Landschaft“, schimpfte Stihl unlängst in der ARD-Tagesschau.

„Günstig“ – das war einmal

„Günstig“ im Sinne von Nikolas Stihl ist die Schweiz als industrieller Produktionsstandort freilich schon lange nicht mehr. Sie war es vielleicht noch 1974, als der erste Spatenstich zum Bau der Fabrik in Wil gefeiert wurde – aber nicht mehr für lange. Das zeitliche Zusammenfallen des ersten Erdölpreisschocks von 1973 mit dem Zusammenbruch des internationalen Systems fester Wechselkurse (Bretton Woods) bescherte der Schweizer Wirtschaft den perfekten Sturm.

Diskriminierende Migrationsgesetze

Der globale Nachfrageeinbruch in Verbindung mit einer starken Aufwertung des Franken beraubte ganze Branchen ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die hohe Zuwanderung von wenig qualifizierten Arbeitskräften aus Südeuropa hatte in den 1950er und 1960er Jahren vielen Schweizer Industrieunternehmen zu zweifelhaften Erfolgen auf den internationalen Märkten verholfen. Das Anheuern billiger Arbeitskräfte auf der Grundlage diskriminierender Migrationsgesetze war einfacher als Investitionen in moderne Maschinen. So war es in der Schweiz in jenen Jahren zu einem auch im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Anstieg der Beschäftigung gekommen – auf Kosten der Produktivität.

Das rächte sich dramatisch in der Krise. Der teure Franken und der unvermittelte Anstieg der Produktionskosten bescherten dem Land zwischen 1973 und 1978 einen Rückgang der Beschäftigung um 8%. Die Produktion von Massengütern mit geringer Automation und niedriger Wertschöpfung, wie sie etwa der Reifenhersteller Firestone bis zu der spektakulären Werksschließung mit 800 Entlassungen im Sommer 1978 betrieben hatte, war plötzlich kein gutes Geschäftsmodell mehr.

Gestiegene Arbeitsproduktivität

Bis heute sehen Wirtschaftshistoriker den Fall Firestone als ein besonders illustratives Beispiel für den tiefgehenden Strukturwandel, von dem die Schweiz in jener Phase überrascht worden war. Es sollte fast zehn Jahre dauern, bis das Land den mit jener Krise einhergegangenen Wohlstandsverlust ausgleichen konnte.

Rückblickend wird auch deutlich, dass die damals oft gestellte Diagnose einer Deindustrialisierung falsch war. Freilich hatte die Angst vor einer Deindustrialisierung die Schweiz vor etwa 30 Jahren heftig umgetrieben. Die Gründe waren dieselben, die jetzt auch den Wirtschaftsstandort Deutschland verunsichern. Viele alte Industrieländer zeichnen sich durch ihr Selbstverständnis aus, Güter herstellen und exportieren zu können, welche die Welt haben will. Deshalb gibt es in der Schweiz wie in Deutschland die weitverbreitete Ansicht, dass Wohlstand ohne Industrie nicht möglich ist.

Dass man in der Schweiz seit 20 Jahren nur noch recht selten über die Gefahr einer Deindustrialisierung spricht, hat nicht zuletzt mit dem Umstand zu tun, dass sich die Beschäftigung der Schweizer Industrie gemessen an der Gesamtbeschäftigung seit 20 Jahren auf einem erstaunlich stabilen Niveau von über 20% gehalten hat. Aber dasselbe ließe sich vermutlich auch für den langjährigen Exportweltmeister Deutschland feststellen. Ein wesentlicher Unterschied ist allerdings, dass die Exporte der Schweizer Industrie seit Ende 1990 um gegen 50% zugenommen haben, obschon der handelsgewichtete Franken-Kurs etwa im Gleichschritt gestiegen ist.

Extreme Spezialisierung

„Diese langfristige Exportperformance der Schweizer Wirtschaft unter der Bedingung einer ständigen Franken-Aufwertung widerspricht nicht nur der Intuition, sondern auch den gängigen wirtschaftstheoretischen Konzepten“, konstatiert Christian Rutzer von der Universität Basel. Der Ökonom erklärt das Phänomen mit dem phänomenalen Fortschritt in der Arbeitsproduktivität, wie er der Schweizer Industrie im Lauf der vergangenen Jahrzehnte gelungen ist.

Ebenso wichtig für den Erfolg war aber auch die Spezialisierung auf Güter, in denen die Schweiz komparative Kostenvorteile aufweist. Eine Methode diese zu messen, ist das vom ungarisch-amerikanischen Ökonomen Béla Balassa entwickelte Konzept der relativen Exportperformance. Es unterstellt, dass das was ein Land im Vergleich zu anderen Ländern am besten produziert, tatsächlich auch dessen relativen Kosten- oder Wettbewerbsvorteil abbildet. Die Unctad-Statistik zeigt denn auch, dass sich die Anzahl der Güterklassen, in denen die Schweiz einen solchen Vorteil aufweist, in den vergangenen 30 Jahren etwa halbiert hat.

Quelle des Wohlstands

Gleichzeitig lässt sich für die Schweiz auch eine starke Konzentration auf Hightech-Güter feststellen. Diese Kombination von hoher Produktivität und extremer Spezialisierung der Produktion auf Güter mit einer hohen Preiselastizität erklärt, weshalb die Schweizer Industrie trotz starkem Franken auf Erfolgskurs bleiben konnte. Es ist auch eine Erklärung für das hohe reale Lohnwachstum, das sich in einem hohen Wohlstand und einem hohen Preisniveau niederschlägt (vgl. Grafik).

Die Umstände mögen hilfreich sein in der Erklärung, weshalb die Firma Stihl die Zahl ihrer Beschäftigten in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren auf über 1.000 verdoppelt hat. Im Sog der Schweizer Hightech-Industrie gedeihen inzwischen auch Firmen wie etwa die unweit von Stihl ansässige Cicor, die sich mit der Herstellung von Leiterplatten und Komponenten beschäftigt. Solche Firmen würde man eher in Taiwan oder Malaysia als in Bronschofen bei Wil vermuten. Doch mit den elektronischen Komponenten verkauft Cicor ihren internationalen Kunden aus hochregulierten Branchen inzwischen vor allem die Sicherheit, dass Normen und internationale Standards eingehalten werden. Der Durchbruch gelang Cicor auch im Fahrwasser erfolgreicher Schweizer Medizintechnikfirmen. Es ist eines von vielen Beispielen in der Schweizer KMU-Landschaft, das zeigt, wie Spezialisierung volkswirtschaftliche Breitenwirkung entfalten kann.

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