Eine Vizepräsidentin in der Krise
Gefeiert wurde Kamala Harris vergangenes Jahr als historische Figur und neue Hoffnungsträgerin der demokratischen Partei. Schließlich ist sie die erste Frau und die erste afroamerikanische Person, die das zweithöchste Amt der USA bekleidet. Harris galt als jene starke Persönlichkeit an der Seite Joe Bidens, die aktiv seine Politik mitgestalten würde und jederzeit kompetent für den mittlerweile 79-jährigen Präsidenten einspringen könnte. Nach knapp elf Monaten im Amt ist ihr Stern aber tief gesunken. Leitende Mitarbeiter der Vizepräsidentin haben ihren Rücktritt eingereicht. In der Wählergunst ist sie noch weiter gefallen als Biden, der seinerseits mit widerspenstigen Republikanern und Flügelkämpfen in der eigenen Partei fertig werden muss.
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Seit Wochen kursierten Gerüchte um den Rücktritt von Ashley Etienne, der Kommunikationschefin der Vizepräsidentin sowie ihrer Pressesprecherin Symone Sanders. Nun haben neben Etienne und Sanders auch zwei weitere Mitglieder von Harris PR-Mannschaft das Handtuch geworfen – ebenso wie andere Mitarbeiter. Indes verlautet aus dem Lager der Vizepräsidentin, die 57-Jährige sei darüber frustriert, dass Biden sie faktisch marginalisiert habe. Angeblich binde er jene Frau, die nur „einen Herzschlag von der Präsidentschaft entfernt ist“, in keine wichtigen Entscheidungsprozesse ein. Stattdessen habe er Harris undankbare Aufgaben anvertraut wie etwa den Umgang mit der Flüchtlingskrise entlang der US-mexikanischen Grenze.
Selbst in dieser Funktion machte sie aber keine gute Figur. Als sich Berichte häuften über desolate Zustände in überfüllten Flüchtlingslagern und kleine Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden, weil die Eltern abgeschoben wurden, fragte ein Reporter die Vizepräsidentin, warum sie noch nicht ins Grenzgebiet gereist sei. Harris lachte und meinte „Wieso denn? In Europa bin ich auch noch nicht gewesen.“
Auch wird ihr vorgeworfen, die Verabschiedung von Bidens massivem Paket zur Bekämpfung des Klimawandels und dem Ausbau der Sozialleistungen zu erschweren. Ohne Absprache mit dem Weißen Haus brüskierte sie in einem Interview den demokratischen Senator Joe Manchin, dessen Stimme für die Verabschiedung des milliardenschweren Gesetzes unverzichtbar ist. Die Entgleisungen mögen ein Ausdruck ihrer eigenen Frustration sein. Schließlich hatte sich die frühere Chefstaatsanwältin Kaliforniens, die selbst als Präsidentschaftskandidatin angetreten war und womöglich noch künftige Ambitionen auf das höchste Amt im Lande hat, eine wesentlich aktivere Rolle in der Biden-Administration vorgestellt.
Anders sehen es aber jene ehemaligen Mitarbeiter, die sich freiwillig verabschiedet haben. Gil Duran, ein demokratischer Stratege, der in Kalifornien für Harris arbeitete, nimmt kein Blatt vor den Mund: Ehemalige Mitarbeiter stünden heute noch regelmäßig in Kontakt und tauschten sich aus. „Wir kommen immer wieder zu demselben Schluss, dass nämlich die Verantwortung bei ihr liegt und sie dieselben destruktiven Verhaltensmuster wie in der Vergangenheit nun wiederholt“, sagte Duran.
Demnach sei ihr Führungsstil rabiat, belehrend und manchmal herablassend. Im Tagesgeschäft kämen sich Mitarbeiter „so vor, als stünden sie ohne Grund im Kreuzverhör einer aggressiven Staatsanwältin“, sagte ein anderer Kollege. Obendrein wird der Vizepräsidentin nun nachgesagt, dass sie interne Akten nicht studiere und tägliche Briefings kaum zur Kenntnis nehme. Dies steht einer Person, die nur einen Pulsschlag vom mächtigsten Amt im Lande entfernt ist, ebenfalls nicht gut zu Gesicht.
Dem Präsidenten sind die Irritationen sehr wohl bewusst, und das Weiße Haus ist sichtlich bemüht, die Frustration um seine Nummer zwei herunterzuspielen. „Es ist doch völlig normal, dass in so stressigen Jobs Mitarbeiter mit Leib und Seele dabei sind und nach einem Jahr oder so dann die nächste Karrierestation anstreben“, beschönigte Regierungssprecherin Jen Psaki die Lage. Von Irritationen oder einem Zerwürfnis zwischen Harris und Biden wolle der Präsident jedenfalls nichts wissen, versuchte sie, einen Schlussstrich unter den schwelenden Konflikt zu ziehen.