BlickfeldZukunftsmarkt Indien

Indien ist das neue Eldorado der Luftfahrt

Richtete sich der Blick der Flugzeugbauer lange Zeit vor allem nach China, gilt inzwischen Indien als der neue Hoffnungsträger der Luftfahrtbranche. Während Indiens Regierung in den massiven Ausbau der Flughafeninfrastruktur investiert, restrukturiert sich die inzwischen privatisierte frühere Staatsairline Air India.

Indien ist das neue Eldorado der Luftfahrt

Indien ist das neue Eldorado der Luftfahrt

Die indische Regierung investiert massiv in den Bau von Flughäfen, die privatisierte Fluggesellschaft Air India in ihre Restrukturierung. Sie setzt neben der Modernisierung der Flotte auf den Ausbau internationaler Flüge.

Von Gesche Wüpper, Paris

Eine Rekordbestellung hier, eine Rekordbestellung da: Fluggesellschaften aus Indien haben die Auftragsbücher von Airbus und Boeing im ersten Halbjahr gut gefüllt. So stammen allein bei Airbus 750 der insgesamt 1.044 Bestellungen, die der europäische Flugzeugbauer im ersten Halbjahr eingeflogen hat, von Air India und Indigo. Bei Boeing entfallen 220 der 460 Nettobestellungen in den ersten sechs Monaten auf Air India. Damit nicht genug, denn Dassault Aviation kann sich ebenfalls Hoffnungen auf Aufträge aus Indien machen. Indiens Premierminister Narendra Modi hat bei seinem Staatsbesuch in Frankreich Mitte des Monats bestätigt, dass sein Land 26 weitere Exemplare des Rafale-Kampfjets bestellen will. 

Richteten sich einst alle Augen auf China, so gilt inzwischen Indien als der neue Hoffnungsträger der Luftfahrtbranche. Denn der Subkontinent hat noch eine Menge Aufholpotential. So hat Indien mit rund 1,4 Milliarden Bewohnern gerade China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholt. Im Gegensatz zum Reich der Mitte ist die indische Bevölkerung aber jünger, und das Wachstumspotenzial des Landes bleibt nach Ansicht von Ökonomen auch in den kommenden Jahren stabil, so dass Indien innerhalb der nächsten 20 Jahre zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen dürfte.

„Ich behaupte mal, dass dieser Auftrag erst der Anfang ist“, sagte Airbus-Verkaufschef Christian Scherer, als Air India im Februar einen Großauftrag für den europäischen Flugzeugbauer und seinen amerikanischen Rivalen ankündigte. Indien hat in diesem Jahr bereits Japan als drittgrößten Inlandsluftfahrtmarkt überholt. Die Nachfrage nach Inlandsflügen liegt deutlich über dem Niveau des Vorkrisenjahres 2019. Vor Ausbruch der Pandemie betrug die durchschnittliche Flugreise pro Kopf pro Jahr gerade mal 0,12. Eine Rate, die nach Ansicht von Airbus bis 2041 auf 0,4 Flüge pro Kopf jährlich steigen dürfte, getrieben vor allem von der stark wachsenden Mittelschicht in Indien. Sie dürfte innerhalb der nächsten 20 Jahre von 460 Millionen Menschen auf 960 Millionen zunehmen.

Entsprechend rechnet Boeing mit einer langfristigen Wachstumsrate der Flugpassagierzahlen bis 2041 um knapp 7% pro Jahr. Der US-Konzern geht deshalb davon aus, dass Indien innerhalb der nächsten 20 Jahre 2.210 neue Flugzeuge benötigen wird, darunter 1.983 Kurz- und Mittelstreckenjets mit einem Gang und 227 Großraumjets. Zu Beginn des Jahres umfasste die Flugzeugflotte in Indien laut Daten von Cirium gerade mal rund 736 Jets, darunter auch 54 Maschinen von Go First. Die drittgrößte Airline Indiens hat im Mai Insolvenz angemeldet und ihre Flotte seitdem am Boden gelassen. Die indische Flugaufsicht hat der Billigfluggesellschaft jedoch gerade die Wiederaufnahme des Betriebs mit 15 Jets erlaubt. Die Entscheidung muss noch gerichtlich abgesegnet werden. 

Noch ist der Abstand des indischen Luftfahrtmarktes zu China groß. So sei die gesamte chinesische Flugzeugflotte fast fünfmal so groß wie die indische, obwohl die Bevölkerung ähnlich groß sei, sagt Lalitya Dhavala von Cirium. Indische Fluggesellschaften dürften nun schneller wachsen als der globale Markt, meint Dave Schulte, der Marketingchef der Zivilflugzeugsparte von Boeing in der Asien-Pazifik-Region. „Mehr als 80% der Auslieferungen neuer Flugzeuge an diesen Markt werden für das Wachstum bestimmt sein, 20%, um alte Flugzeuge zu ersetzen.“ Airbus wiederum schätzt, dass die Flugzeugflotte, die Verbindungen von und nach Indien bedienen wird, bis 2041 auf 2.680 Passagiermaschinen steigen wird, Jets ausländischer Airlines mitgerechnet.

Bisher ist der internationale Flugverkehr von und nach Indien mit 70% bis 80% fest in Händen ausländischer Fluggesellschaften. Vor allem europäische Airlines und Golf-Carrier dominieren das Segment. „Air India war bisher ein relativer kleiner Akteur für internationale Flüge“, sagt Air-India-Chef Campbell Wilson im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Das will der aus Neuseeland stammende frühere Scoot-Chef und Singapore-Airlines-Manager ändern. Dabei helfen sollen auch die 34 A350-, 20 787- und zehn 777X-Langstreckenjets, die Air India gerade bei Airbus und Boeing bestellt hat. Sie sollen ab Ende des Jahres ausgeliefert werden. Mit ihnen wird Air India künftig von ihren beiden Drehkreuzen in New Delhi und Bombay Direktverbindungen in viele amerikanische und europäische Metropolen anbieten können. 

Das Potenzial für Langstreckenverbindungen mit Indien ist groß. Immerhin habe das Land mit 32 bis 34 Millionen Personen die größte Diaspora weltweit, sagt Wilson. „Wir haben in den letzten Monaten bereits neue Direktflüge nach Amsterdam, Kopenhagen, London-Heathrow, Mailand und Wien lanciert. Wir werden neue Verbindungen eröffnen, auch nach Deutschland und Frankreich.“ So will Air India künftig auch Direktflüge von Bombay nach Frankfurt und Paris anbieten. 

Zudem denkt die Anfang 2022 privatisierte Fluggesellschaft nach Angaben Wilsons darüber nach, ein drittes Drehkreuz im Süden Indiens zu etablieren – in Bangalore, Hyderabad oder Cochin. Wie ihre Konkurrenten dürfte sie von der rasanten Entwicklung der Flughafeninfrastruktur in Indien profitieren. Die indische Regierung investiert derzeit massiv in den Bau neuer Flughäfen, den Ausbau bestehender Strukturen und die Verbesserung der Air-Traffic-Management-Systeme. „Die Zahl der Flughäfen hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre von 75 auf fast 150 verdoppelt“, erklärt Wilson. „In den nächsten fünf Jahren sollen 80 neue Flughäfen dazukommen.“ 

Air India investiert nicht nur in neue Flugzeuge, sondern will auch für die Modernisierung der Kabinen der aus über 220 Flugzeugen bestehenden Flotte 400 Mill. Dollar ausgeben. Das Angebot höherwertig zu positionieren und die frühere Staatsairline zu modernisieren gehört zu den wichtigsten Aufgaben Wilsons. Der von ihm vor sechs Monaten lancierte, auf fünf Jahre angelegte Restrukturierungsplan sieht auch die Fusion der vier Fluggesellschaften vor, die zur Tata-Gruppe gehören (Air India, Air India Express, Vistara und Air Asia India). Unter dem Namen Air India Express ist künftig eine Billigfluggesellschaft geplant, während die Marke Air India das internationale Langstreckengeschäft bedienen soll. Die Entscheidung der Wettbewerbsbehörden steht noch aus.

Unter Berücksichtigung aller Marken kommt die Air-India-Gruppe auf einen Marktanteil von 25,1% auf dem Heimatmarkt, Low-Cost-Konkurrent Indigo dagegen auf 56,2%. Die insolvente, nach Investoren suchende Billig-Airline Go First kam zuletzt auf 6,4%. Die ebenfalls mit finanziellen Problemen kämpfende Fluggesellschaft Spice Jet (4,4%) wurde inzwischen von der 2022 lancierten Budget-Airline Akasa überholt. Sie kommt auf 4,8%. Seit 2010 sind zwei indische Fluggesellschaften pleitegegangen, Kingfisher und Jet Airways.

In dem 80 Kilometer von New Delhi entfernten Jewar soll Ende 2024 der Noida International Airport öffnen. In den nächsten fünf Jahren sind 80 neue Flughäfen in Indien geplant.