Japan auf Abwegen
Carlos Ghosn ist ein Musterbeispiel dafür, was in Japan falsch läuft – als Opfer in puncto Rechtssystem und als Täter in Sachen Unternehmensführung. In beiderlei Hinsicht wird Renault-Chef Ghosn keine Gerechtigkeit erfahren. Man stempelt ihn als Nimmersatt ab und lässt seine japanischen Co-Manager bei Nissan ungeschoren davonkommen.In Japan sind die Habeas-Corpus-Rechte bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Zwar gibt es nach drei Tagen eine Haftprüfung, aber ohne das Prinzip “In dubio pro reo”. Der Haftrichter geht davon aus, dass die Strafverfolger schon wissen, was sie tun. Die Untersuchungshaft dauert 20 Tage, erst danach muss die Anklage stehen. Drei Wochen lang wird der Verdächtige bis zu acht Stunden täglich verhört, ohne je einen Anwalt an seiner Seite zu haben. Gesteht der Beschuldigte immer noch nicht, wird er wegen eines ähnlichen Vorwurfs erneut verhaftet und weitere 23 Tage befragt. Das erlebt Ghosn gerade am eigenen Leib.Das japanische Justizsystem ist darauf ausgerichtet, Geständnisse zu erpressen. Die Verfassung verbietet zwar eine Verurteilung allein auf dieser Basis, aber dem Gericht werden immer auch einige Indizien präsentiert. Wer wie Ghosn nicht gesteht, bleibt in Haft und kann nicht auf Kaution freikommen. Der harsche Umgang mit Beschuldigten wird seit Jahren von Menschenrechtlern kritisiert. Dieses System schadet auch Japans Wirtschaft. Viele Manager drücken sich vor notwendigen Entscheidungen, weil sie die Mühlen dieser barbarischen Justiz fürchten. So verschwand Ghosn gerade rechtzeitig hinter Gittern, bevor er die Fusion von Nissan und Renault vollziehen und Nissan-Chef Hiroto Saikawa ersetzen konnte. Dass Saikawa die Staatsanwaltschaft ins Unternehmen holte, um Beweise gegen Ghosn zu finden, nährt die Version von der Palastrevolte.Japans schwacher Rechtsstaat untergräbt auch die Basis für freies Unternehmertum. Im dichten Vorschriftendschungel können Geschäftsführer schnell stolpern. Die Regeln sind meist so vage formuliert, dass sich eine Handlung leicht als Rechtsbruch auslegen lässt. Das gilt auch für das Börsengesetz, das Ghosn angeblich gebrochen hat. Diese Geschäftsrisiken lassen sich am besten vermeiden, indem man als Angestellter arbeitet. Aber die unfaire Justiz schreckt auch ausländische Manager davon ab, in Japan zu arbeiten, obwohl die Firmen ihr Wissen dringend bräuchten. Doch welcher Ausländer möchte in Japan Entscheidungen verantworten, wenn er dafür aus heiterem Himmel wochenlang in eine sechs Quadratmeter große Zelle ohne Bett, Heizung und Klimaanlage gesperrt werden kann?Auch in der Unternehmensführung befindet sich Japan seit langem auf Abwegen. Bei Nissan war Ghosn über viele Jahre gleichzeitig Chef von Vorstand und Verwaltungsrat – eine nicht seltene Kombination in Japan. Er berichtete also an sich selbst und kontrollierte sich selbst. Bei Nissan gab es auch kein Komitee für die Gehälter des Führungspersonals – genauso wie bei drei von vier börsennotierten Unternehmen in Japan. Vielmehr setzte Ghosn die Gehälter der Topmanager einschließlich des eigenen Einkommens selbst fest und brauchte dafür nur die Zustimmung von zwei anderen Direktoren. Zuletzt waren dies seine rechte Hand Greg Kelly und Nissan-CEO Saikawa, den Ghosn selbst ernannt hatte. Damit dabei wirklich gar nichts schiefging, ignorierte Nissan als einziges großes Unternehmen in Japan die (unverbindliche) Vorgabe der Tokioter Börse, dass mindestens zwei Aufsichtsräte unabhängig sein müssen. Erst nach einem peinlichen Rückrufskandal – unqualifizierte Beschäftigte prüften die Sicherheit von Neuwagen – zogen im April 2017 zwei Externe in das oberste Kontrollgremium ein, ein Ex-Beamter und ein Ex-Rennfahrer, die bestimmt keine unangenehmen Fragen stellen würden.Aus dem Fall Ghosn sollte Japans Regierung dringend ihre Lehren ziehen. Die Justiz darf keine Geständnisse durch überzogen lange Untersuchungshaft erzwingen. Auch sollten Beschuldigte auf Entschädigung klagen können, falls sie zu Unrecht verhaftet wurden. Für eine bessere Corporate Governance muss ein Gehaltskomitee zur Pflicht werden und die Hälfte der Verwaltungsräte unabhängig sein. Davon sollte man aber keine Wunder erwarten. Wegen des Harmoniestrebens und der Beschäftigung auf Lebenszeit will kein Japaner ein Störenfried sein. Deswegen gab es auch keinen offenen Aufstand gegen Ghosn. Lieber stellte man ihm hinterrücks ein Bein.—–Von Martin FritzCarlos Ghosn wird keine Gerechtigkeit erfahren – weder als Beschuldigter noch als Manager.—–