Im InterviewRalf Thomas, Siemens

„Manchmal ist die Quartalsrhythmik gnadenlos“

Siemens ist seit 125 Jahren an der Börse. Ralf Thomas führt seit 2013 das Siemens-Finanzressort und pflegt damit für fast ein Zehntel der Siemens-Notierungszeit die Kapitalmarktbeziehungen des Konzerns. Im Interview plädiert er für das Abwerfen von Ballast.

„Manchmal ist die Quartalsrhythmik gnadenlos“

Im Interview: Ralf Thomas

„Manchmal ist die Quartalsrhythmik gnadenlos“

Der Siemens-Finanzvorstand über seine Erfahrungen mit der Börse – Konzern ist seit 125 Jahren notiert – Plädoyer für das Abwerfen von Ballast

Siemens ist seit 125 Jahren ununterbrochen notiert, der Dividendentitel ging im Jahr 1899 an die Börse. Ralf Thomas, der lange dem Verwaltungsrat des Deutschen Rechnungslegungsstandards Committee vorstand und weiterhin dem Präsidium des Deutschen Aktieninstituts angehört, führt seit 2013 das Siemens-Finanzressort – er pflegt daher die Kapitalmarktbeziehungen für fast ein Zehntel der Siemens-Notierungszeit.

Herr Professor Thomas, Siemens ist seit 125 Jahren an der Börse. Welche Relevanz hat der Kapitalmarkt überhaupt für das Unternehmen?

Unser Gründer Werner von Siemens hatte zeitlebens kein Faible für ein Listing. Sein Bruder Carl setzte sich letztlich mit einem Argument durch, das auch heute noch gilt: Je mehr Associés man habe, sagte er in der damaligen Sprache, desto mehr Leute ebneten möglicherweise den Weg zu den Kunden. Die Geschichte von Siemens hat darüber hinaus gezeigt, dass man für die Skalierung von Industrien Kapital braucht.

Dafür gibt es heute doch Private Equity.

Gerade schnell wachsende Unternehmen können ihre Expansion schlecht aus privaten Finanzierungsstrukturen heraus bewerkstelligen. Sonst gäbe es wahrscheinlich mehr Private Equity, die sich mit großen Skalierungsthemen befassen. Das ist empirisch eher der Ausnahmefall.

Warum ist Skalierung aktuell so wichtig?

Viele Zukunftstechnologien stehen erst am Anfang einer S-Kurve, die für Innovationen typisch ist. Wer dabei sein will, wenn diese Kurven abheben und damit ökonomisch interessant werden, der braucht jetzt Kapital.

Gibt es trotzdem Nachteile der Börse – vielleicht sogar Aspekte, die Sie als anstrengend oder nervig empfinden?

Natürlich gibt es Augenblicke, die herausfordernd sind. Auch das hat Werner von Siemens abgebildet mit seinem Satz, er verkaufe die Zukunft nicht für den Gewinn der Gegenwart. Da ist schon etwas dran. Manchmal ist die Quartalsrhythmik gnadenlos. Wenn ein Finanzvorstand von der Quartals-Roadshow zurückkommt, muss er sich schon überlegen, wie es im nächsten Quartal weitergeht. Für Veränderungsprozesse, die sich über Jahre hinziehen, muss man sich etwas einfallen lassen.

Welche Lösung sehen Sie?

Das einzige probate Mittel ist Offenheit und Transparenz ex ante. Was meine ich damit? Nehmen Sie zum Beispiel unsere Umstellung auf Abonnement-Modelle im Digitalgeschäft. Software as a Service (SaaS) kann man nicht in zwei Quartalen einführen, dafür braucht man vier bis fünf Jahre, in denen der Gewinn leidet.

Wie akzeptiert die Börse dies?

Vor dem Start der SaaS-Transformation muss man genau sagen, was man tun wird. Wir haben Kenngrößen definiert, über die wir in jedem Quartal berichten. Das gibt Sicherheit in einer Phase der Unsicherheit.

Hilft da eine 125-jährige Börsengeschichte?

Auch in Erfahrung steckt Qualität. Der Siemens-Aktienkurs ist der Familiengeschichte zufolge schon am ersten Handelstag um 20% gestiegen, wir sind Gründungsmitglied im Dax. Erfahrung allein reicht natürlich nicht, man muss auch offen für Neues sein. Dieses Wechselspiel ist essenziell.

Wie hat sich Ihr Kontakt mit den Börsenakteuren in den elf Jahren an der Spitze des Siemens-Finanzressorts verändert?

Am Anfang habe ich mehr als ein Drittel meiner Zeit damit verbracht, dem Kapitalmarkt zu erklären, was nicht funktioniert und warum. Aus einer Position der Schwäche heraus braucht man viel Zeit für derartige defensive Aufgaben. Nun agieren wir aus einer Position der Stärke. So gewinnt man Vertrauen in der Kommunikation und kann so etwas wie die SaaS-Transformation sinnvoll umsetzen.

Es geht um Vertrauen.

So ist es. Wenn man ex ante Vertrauen durch Transparenz aufgebaut hat, dann gibt einem der Kapitalmarkt auch die Zeit, langfristig angelegte Veränderungen zu machen.

Der Kapitalmarkt will auch wissen, wofür ein Unternehmen steht und wohin es strebt.

Siemens hat die Fähigkeit, auf einer technologischen Basis jene Transformationsprozesse voranzutreiben, die für viele Menschen relevant sind. Das ist genau das, was man in der Kapitalmarktsprache etwas lieblos als Equity Story bezeichnet. Siemens hat diesen Ansatz schon immer verfolgt, vom Zeigertelegrafen bis hin zum Computertomografen. Eine derartige Rolle zu spielen, darauf sind wir schon stolz.

Nicht jeder kann mit dem Pfund einer derartigen Stärke und Geschichte wuchern.

Ich frage mich oft, wie kleinere Unternehmen bestehen können, die noch keinen Track Record haben und auch nicht über die Finanzierungskonditionen verfügen, wie wir sie haben. Deshalb ist es wichtig, dass der Kapitalmarkt – und das ist ja mehr als nur die Börse – attraktiv bleibt, und zwar in Deutschland und in Europa. Kleine Unternehmen sollten nicht in andere Jurisdiktionen oder Geografien flüchten müssen, um interessante Produkte und Lösungen für die Menschheit zu skalieren. Daran arbeiten die verschiedenen Ministerien und auch die Wirtschaft gemeinsam ganz erfolgreich. Aber es ist noch viel zu tun.

Welche Änderungen wünschen Sie sich?

Es hängt nicht immer alles an der reinen Regulatorik. Es wäre schön, wenn wir uns einmal richtig schütteln und den unnötigen Ballast abwerfen könnten. Nur ein Gedanke: Wenn ein Unternehmen einen Antrag digital stellen kann, dann lässt sich das in der Regel über Nacht erledigen. Wenn dieser Antrag allerdings schriftlich und in dreifacher Ausführung eingereicht werden muss, womöglich noch an drei verschiedenen Stellen, die sich untereinander wieder nicht abgleichen können, dann ist der Aufwand viel höher. Hier schlummert Potenzial in der regulatorischen Infrastruktur. Änderungen würden es dann kleineren Unternehmen erleichtern, den Sprung an den Kapitalmarkt zu wagen.

Das Interview führte Michael Flämig.

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