Corona-Notbremse

Langer Bremsweg

Der Bund hat einheitliche Regeln für die „Notbremse“ auf den Weg gebracht. Die für den Kampf gegen die Pandemie verlorene Zeit bringt das nicht zurück.

Langer Bremsweg

Drei Wochen nach dem denkwürdigen Verhandlungsmarathon der Spitzen von Bund und Ländern, an dessen Ende die sogenannte „Oster-Ruhe“ verkündet wurde, für die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurz darauf im Bundestag in Sack und Asche gehen musste, hat das Kabinett gestern bundeseinheitliche Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie auf den Weg gebracht. Konkret geht es um eine einheitliche Umsetzung der Anfang März verabredeten „Notbremse“ überall dort, wo das Infektionsgeschehen gemessen an der Sieben-Tage-Inzidenz den Grenzwert von 100 übersteigt. Jetzt soll das Parlament den Entwurf so schnell wie möglich absegnen, damit die Infektionsdynamik der dritten Welle noch gebrochen werden kann.

Zu Wochenbeginn lag das Infektionstempo in 305 von insgesamt 412 Landkreisen und kreisfreien Städten über 100 Neuinfektionen pro 100000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen. Die in den betroffenen Gebieten eingeleiteten Bremsversuche fallen unterschiedlich aus. Bislang liegt es in der Verantwortung der Länder, die mit dem Bund verabredete Notbremse zu ziehen. Da die Staatskanzleien die gemeinsamen Beschlüsse teils recht eigenwillig auslegten und sich bis zuletzt kein einheitlicher Kurs abzeichnete, hat der Bund das gewünschte Bremsmanöver jetzt per Gesetz geregelt.

Die Bundeskanzlerin wirkte nach der Kabinettssitzung aufgeräumt, ganz anders als nach der letzten Bund-Länder-Runde zur Corona-Pandemie Ende März. Einen ausverhandelten Gesetzentwurf durchzuwinken zehrt eben weniger an den Nerven als eine elfstündige Videokonferenz mit 16 Länderchefs, in der das Kanzleramt vor allem mit der Abwehr von Lockerungsbestrebungen einzelner Ministerpräsidenten beschäftigt war, bevor um 3 Uhr früh die unausgegorene Oster-Pause als eine Art Mini-Lockdown aus dem Hut gezaubert wurde. Um die dritte Infektionswelle zu brechen, reichten Bund-Länder-Beratungen allein nicht mehr aus, erklärte Merkel gestern. Das jüngste geplante Treffen mit den Ministerpräsidenten am Montag hatte sie bereits in der vergangenen Woche abgesagt. Das Regierungshandeln in der Pandemie müsse „stringenter und konsequenter“ werden, stellte sie in verbindlichem Ton fest, der die beißende Kritik an den Länderchefs kaum kaschierte. Es sei notwendig, die Zusammenarbeit der politisch Verantwortlichen „auf neue Füße“ zu stellen, was mit dem jetzt eingeleiteten Gesetzgebungsverfahren auch geschehe, sagte Merkel.

Nicht nur FDP-Chef Christian Lindner, der vor drei Wochen einen „Neustart“ der Corona-Politik angemahnt hatte, dürfte sich bestätigt sehen. Die Forderungen des Parlamentes, an den Entscheidungen über Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie beteiligt zu werden, reichen weit vor den politischen Kurzschluss in der Ministerpräsidentenkonferenz Ende März zurück. Jetzt hat der Bundestag die Gelegenheit, über die Notbremse zu beraten, wobei eine Zustimmung im Eilverfahren mit Unterstützung von FDP und Grünen, auf die die Bundesregierung gehofft hatte, wohl nicht gelingen wird. Mit einer Verabschiedung des Gesetzes ist deshalb frühestens Mitte der nächsten Woche zu rechnen, obwohl der Bundesrat nicht damit befasst werden muss.

Ob das reicht? Selbst wenn es höchste Zeit gewesen sein mag, den Ländern nach dem jüngsten Black-out am Steuer der Bund-Länder-Runde auch das Ermessen über Bremsmanöver im eigenen Einflussbereich aus der Hand zu nehmen und die Corona-Notbremse bundesweit zu regeln, sollte eine einfache Wahrheit über den Bremsweg nicht aus dem Blick geraten: Er verlängert sich exponentiell zur Geschwindigkeit. Je länger die dritte Infektionswelle also Schwung holen darf, desto länger und kostspieliger wird das Bremsmanöver – gesetzt den Fall, dass es in Deutschland noch Konsens ist, eine katastrophale Überlastung der Intensivstationen zu vermeiden.

Die Bremsweg-Formel sollte sich auch der eine oder andere Vertreter der Wirtschaft in Erinnerung rufen, der sich lautstark über die im Kabinett gebilligte Verpflichtung zu Corona-Testangeboten für Mitarbeiter beschwert, weil das nur eine Ablenkung von den Versäumnissen der Regierung sei und einem Misstrauensvotum gegenüber den Unternehmen gleichkomme. Die Versäumnisse der vergangenen Monate sind hinlänglich bekannt. Auch eine bundeseinheitliche Notbremse und verstärkte Tests in Unternehmen werden sie nicht heilen. Bei der Eindämmung der Pandemie können sie dennoch zu einer Verkürzung des Bremswegs beitragen.