Man sieht sich vor Gericht
Notiert in Brüssel
Man sieht sich vor Gericht
Von Detlef Fechtner
Wer Schülerinnen und Schülern anschaulich erklären möchte, wie in der Europäischen Union Gesetze entstehen, der stellt sich am besten mit ihnen auf den Schuman-Kreisel, den Rondpoint Schuman. Rechter Hand der großen Straße, die keineswegs zufällig Rue de la Loi (Straße des Gesetzes) heißt, werden die Richtlinien und Verordnungen geschrieben, denn da residiert die EU-Kommission. Dann werden die Vorschläge über die Straße gebracht, denn linker Hand ist der Rat zu Hause – und wenige Meter dahinter auch das EU-Parlament. Bekanntermaßen sind diese beiden Institutionen die sogenannten Ko-Gesetzgeber. Sie entscheiden.
Aktuell tobt ein Streit in Brüssel, ob die EU-Kommission das ebenfalls noch so sieht – oder ob sie ihre eigene Rolle bei der Gesetzgebung auszudehnen sucht. Parlamentarier wie der Sozialdemokrat Rene Repasi werfen der EU-Behörde vor, dem EU-Parlament „durch die Hintertür die Macht zu entziehen“ und sprechen von „institutionellem Tabubruch“. Der BSW-Europaabgeordnete Fabio de Masi, der mit der EU-Kommission auch aus anderen Gründen streitet, beanstandet eine Missachtung des Parlaments.
Streit um Rechtsbasis
Anlass des Streits ist die Tatsache, dass die EU-Kommission die Rechtsbasis auswählen darf, wenn sie Gesetzesvorschläge macht. Und sie hat sich jüngst bei der Vorlage, bei der es um die Einführung einer 150 Mrd. Euro schweren Kreditfazilität für Rüstungsinvestitionen unter dem Kunstnamen „Safe“ ging, für Art. 122 AEUV entschieden. Dabei wird das EU-Parlament außen vor gelassen, es darf im Gegensatz zum üblichen Prozess nicht mitentscheiden. Art. 122 ist für Notfälle vorgesehen („gravierende Schwierigkeiten“), damit die EU schnell handeln kann. Selbst der juristische Dienst gibt den Parlamentariern recht, dass dies eine mehr als zweifelhafte Einordnung eines auf mehrere Jahre angelegten Verteidigungsfonds ist. Jetzt landet die ganze Chose vor Gericht. Der Rechtsausschuss des EU-Parlaments zieht gegen die EU-Kommission vor den EuGH. Die Richter sollen es richten.
Dass einige EU-Abgeordnete mittlerweile recht gallig darüber urteilen, wie sich die EU-Kommission im Gesetzgebungsprozess verhält, hat allerdings nicht nur mit dem Safe-Fonds zu tun. Auch die in Arbeitspapieren oder sogar veröffentlichten Dokumenten zwischenzeitlich geäußerten Drohungen der EU-Behörde, in laufenden Gesetzgebungsverfahren die Reißleine zu ziehen, kommt bei vielen EU-Abgeordneten ganz schlecht an – sei es bei der Kleinanlegerstrategie (Retail Investment), der Open-Finance-Gesetzgebung (Financial Information Data Acces) oder den Regeln gegen irreführende, umweltbezogene Werbung (Green Claims). Zwar darf die EU-Kommission theoretisch in jeder Phase ihren eigenen Gesetzgebungsvorschlag wieder zurückziehen. Aber wenn sie es tut, stößt sie das EU-Parlament vor den Kopf – und das sollte sie sich gut überlegen. Denn auf eine gute Zusammenarbeit mit dem Parlament ist sie ja, ob sie mag oder nicht, angewiesen.