Notiert inBrüssel

Mindestlohn trifft Gierflation

Angesichts schwindender Kaufkraft schlägt die Stunde der Gewerkschaften. Sie fordern deutlich höhere Mindestlöhne – und berufen sich auf eine EU-Richtlinie, die bald greift.

Mindestlohn trifft Gierflation

Notiert in Brüssel

Mindestlohn trifft Gierflation

Von Stefan Reccius

Wären wir doch alle Belgier! Hier haben Arbeitnehmer im ersten Quartal 2,9% mehr verdient als vor einem Jahr – nach Abzug der Inflation! In Deutschland hingegen sanken die Reallöhne um 3,3%, haben die Statistiker der Industrieländer-Organisation OECD berechnet. Aufs Gesamtjahr 2023 hochgerechnet, können Belgier laut gewerkschaftsnahem WSI gar mit einem Reallohnplus von 5,4% rechnen.

Ihnen kommt zugute, dass Löhne und Renten in Belgien an die Inflation gekoppelt sind. Anderswo schlägt die Stunde der Gewerkschaften. Und die fahren schwere Geschütze auf, um angesichts der hohen Inflation für einen gerechten Lohnausgleich zu trommeln.

Esther Lynch, die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds, kann es nicht fassen, dass die Staats- und Regierungschefs neulich beim Gipfeltreffen einfach so darüber hinweggegangen sind, ohne auf den „Elefant im Raum“ einzugehen: die „Gierflation“. Sie müssten doch „die Schwächsten schützen, der Lohnzurückhaltung ein Ende setzen und dafür sorgen, dass die wahre Ursache dieser Krise angegangen wird, indem sie in allen EU-Ländern Steuern auf übermäßige Gewinne erheben und Maßnahmen gegen Wucher ergreifen“, ereifert sich Lynch.

Sie trifft damit den Ton, den viele Arbeitnehmervertreter oder solche, die es sein wollen, längst angeschlagen haben. Zurückhaltung war gestern. „Gierflation bekämpfen!“, fordert der Europaabgeordnete Martin Schirdewan. „Die EU-Kommission brüstet sich als Hüterin des Marktes, schaut jedoch tatenlos zu, wenn Unternehmen die Preise hochtreiben, um Kapital aus der Inflation zu schlagen.“

EU-Richtlinie greift bald

Im Repertoire des Co-Vorsitzenden der Partei Die Linke vermutet man derart plakative Äußerungen ohne Weiteres. Doch auch Technokraten des Kapitalismus, die qua Amt zur Neutralität verpflichtet sind, hinterfragen mehr oder minder offen die vermeintlich um sich greifende Profitgier. Ökonomen des Euro-Rettungsschirms ESM bloggen erfrischend provokativ: „Unternehmensprofite – Fluch oder Segen?“

Ihr Befund: Die Gewinnmargen haben historische Höchststände erreicht. Kurzfristig stabilisiere das die Finanzmärkte. Mittelfristig drohe Ungemach, falls absehbar rückläufige Margen mit steigenden Lohnkosten zusammenfallen sollten.

Für den ESM sind Erwägungen zur Finanzstabilität maßgeblich, nicht die Belange gebeutelter Arbeitnehmer. Bei der OECD ist das anders: Der Industrieländerclub schwingt sich geradewegs zu ihrem Anwalt auf und tritt für robuste Mindestlöhne ein. Das ist natürlich Musik in den Ohren von Sozialpolitikern – nicht zuletzt jenen, die sich um die EU-Mindestlohnrichtlinie verdient gemacht haben.

Deutschland muss die Richtlinie im nächsten Jahr umsetzen. Daran erinnern führende Gewerkschafter, denen die von der Mindestlohnkommission beschlossene Anhebung des Mindestlohns auf 12,41 Euro im nächsten und 12,82 Euro im übernächsten Jahr zu mickrig ausfällt. Mit Verweis auf die EU-Vorgabe heißt es beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Mindestlöhne sollten mindestens 60% des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten ausmachen. „Dies würde in Deutschland einem Mindestlohn von etwa 14 Euro entsprechen.“

Doch so einfach ist es nicht. „Die EU überschreitet mal wieder ihre Kompetenzen“, schreibt der Arbeitsrechtler und „Welt“-Kolumnist Arnd Diringer. Ihre Zuständigkeit erstrecke sich ausdrücklich nicht auf das Arbeitsentgelt. Und weil die EU-Gesetzgeber um diesen Graubereich wissen, haben sie die Richtlinie bewusst vage formuliert.

Jene 60% des Medianeinkommens, die der DGB aufruft, sind die gängige Empfehlung. Genauso gut können die EU-Staaten aber andere Referenzgrößen wie Kaufkraft und allgemeine Lohnentwicklung heranziehen. Etwa auch die Gierflation? Beim Mindestlohn ist künftig mehr denn je die Kreativität von Arbeitsminister Hubertus Heil gefragt.

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