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Missverstandene Japanisierung

Drohen nun auch China „verlorene Jahrzehnte“ wegen einer Immobilienkrise? Der beliebte Vergleich mit Japan ist bei der Antwort jedoch wenig hilfreich.

Missverstandene Japanisierung

Missverstandene Japanisierung

Drohen nun auch China „verlorene Jahrzehnte“ wegen einer Immobilienkrise? Der beliebte Vergleich mit Japan ist bei der Antwort jedoch wenig hilfreich.

Von Martin Fritz, Tokio

Wer das erste Mal nach Tokio kommt und dabei das Mantra von Japans „verlorenen Jahrzehnten“ im Kopf hat, der wundert sich über glitzernde Wolkenkratzer, saubere Straßen, pünktliche Züge, schnelles Internet und gut gekleidete Menschen. Wenn Krise so aussieht, dann wünscht man sich mehr Krisen. Dennoch steht das Schlagwort „Japanisierung“ (japanification) heutzutage für das düstere Szenario eines lang andauernden wirtschaftlichen Niedergangs. Die wichtigsten Stichworte lauten Immobilienblase, Deflation und alternde Bevölkerung. Weil sie neuerdings auch auf China zutreffen, ordnen viele Analysten die dortige ökonomische Entwicklung als „Japanisierung“ ein.

Doch dieser Vergleich ist wenig hilfreich, wird weder Japan noch China gerecht und erschwert eher die Analyse des heutigen China. Das Wort „Japanisierung“ suggeriert auch einen konjunkturellen Alptraum, den es in Wirklichkeit nie gab. „Was Japan damals erlebte, war keinesfalls die Katastrophe, die sich viele Leute darunter vorstellen“, schrieb der US-Ökonom Paul Krugman kürzlich. Der Niedergang sei „relativ“ gewesen, es gab keine Massenarbeitslosigkeit, kein Massenelend, keine sozialen Aufstände, betont Krugman. Die Arbeitslosenrate erreichte im Scheitelpunkt nur 5,5%. Auch der chinesische Makroökonom Lu Zhe von Topsperity Securities schrieb in der KP-Zeitung China Daily: „Betrachtet man Japans Wachstum, dann sollte man nicht von einem verlorenen Jahrzehnt reden, sondern von drei Dekaden des Wandels.“

Der Chefökonom des Nomura-Forschungsinstituts, Richard Koo, erklärt die damaligen Probleme Japans als „Bilanzrezession“: Nach einer Finanzkrise geraten die Bilanzen von privaten Haushalten und Unternehmen in Schieflage, weil die Vermögenswerte auf der Aktivseite stark schrumpfen. Daher sparen Bürger und Firmen, um diese Verluste aufzuholen, statt zu investieren und zu konsumieren. Auf Japan traf seine Beschreibung sicher zu. Die Wertverluste von Japans Aktien und Immobilien seit Ende 1989 summierten sich laut Masaaki Shirakawa, Ex-Gouverneur der Bank of Japan, auf gewaltige 230% des nominalen Bruttoinlandsproduktes. (Zum Vergleich: Bei der Großen Finanzkrise 2008/09 schrumpften US-Assets nur um 100% des BIPs.) Da war Sparen die einzig mögliche Reaktion, weshalb der Staat seine Ausgaben kräftig erhöhte. Koo konstatiert nun den Beginn einer Bilanzrezession in China: „Die Leute leihen sich kein Geld mehr und versuchen, ihre Schulden zu verringern“, erklärt Koo. Auf diese Entwicklung sollte die Regierung in Peking mit fiskalischem Stimulus reagieren. Aber mehrere chinesische Ökonomen sind anderer Meinung und verweisen auf die Zunahme der ausstehenden Kreditmenge von Haushalten und Unternehmen im ersten Halbjahr. Das Wachstum hätte sich zwar verlangsamt, aber nicht wegen fallender Vermögenspreise, sondern durch das schwache Verbrauchervertrauen aus Sorge um Arbeitsplätze und Konjunktur, argumentiert zum Beispiel Luo Zhiheng, Chefvolkswirt von Yuekai Securities.

Sinkende Waren- und Dienstleistungspreise sehen Analysten als die größere Bedrohung. Der Rückgang der Produzentenpreise im Juli um 4,5% ließ daher die Alarmglocken läuten. Auch hier funktioniert der Vergleich mit Japan jedoch nicht: Dort setzte die Deflation von Preisen und Löhnen erst sieben, acht Jahre nach dem Platzen der „Bubble“ ein und blieb mit weniger als minus 1% stets im milden Bereich, deswegen schränkte niemand Konsum und Investitionen ein.

Auch ein zweiter Unterschied sticht ins Auge: Chinas Aktienindex CSI 300 und der Hang Seng-Tech-Index erreichten im Februar 2021 mitten in der Pandemie zwar langjährige Hochs. Aber die Bewertungen waren bei Weitem nicht so übertrieben wie Ende 1989 in Japan. Damals herrschte dort ostentativer Konsum. Viele Menschen fühlten sich reich, warfen mit Geld um sich und glaubten an Japans unaufhaltsamen Aufstieg. In China kam bei den Hochs keine Partystimmung auf. Bald verschlechterten die radikale Anti-Covid-Politik, ihr abruptes Ende mit mutmaßlich vielen Toten und die schwache Erholung die Konsumlaune.

Viele Chinesen haben zwar Geld verloren, weil die Immobilienwerte nicht mehr steigen oder wenn ihr Bauträger in die Pleite schlitterte. Die Wohnungspreise fallen aber seit dem Sommer 2021 nur mäßig. Von extremen Wertverlusten wie in Japan kann keine Rede sein. Dazu kommt: Glaubt man der offiziellen Statistik, wächst Chinas BIP derzeit noch viermal schneller als Japans Wirtschaft mit durchschnittlich 1,3% während der 1990er-Krisenjahre.

Die einzige Gemeinsamkeit, die den Begriff „Japanisierung“ für China rechtfertigen könnte, ist die demografische Entwicklung. Als erstes Industrieland erlebte Japan ab 1995 einen Rückgang der Erwerbsbevölkerung (15 bis 64 Jahre), verschärft durch eine niedrige Geburtenrate und starke Vorbehalte gegen eine Einwanderung. Auch China scheint diesen Punkt inzwischen erreicht zu haben. Aber das Reich der Mitte befindet sich erst ganz am Anfang dieser Entwicklung, sie wirkt sich nicht direkt auf die aktuelle Konjunktur aus.

Den Verlust von bislang 15% seiner Erwerbstätigen konnte Japan gut verkraften: Die Zahl der Beschäftigten stieg sogar auf ein Nachkriegshoch und hält sich dort seit vier Jahren, weil mehr Frauen und Rentner erwerbstätig wurden. Die Realeinkommen je Erwerbstätiger wuchsen um 45%. Selbst in der sogenannten „Eiszeit“ der 1990er blieb die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen unter 10%. Das ist nur halb so viel wie aktuell in China.

Doch Chinas Alterung unterscheidet sich von Japans: Die Erwerbsbevölkerung beginnt nämlich schon zu schrumpfen, bevor das Durchschnittseinkommen das westliche Niveau erreicht hat (s. Grafik). Japan blieb in dieser Einkommensfalle (middle income trap) nicht stecken. Chinas Kommunisten verfügen jedoch über ein probates Gegenmittel: Sie könnten der privaten Wirtschaft, die 60% zum BIP beisteuert und 90% der neuen Jobs generiert, mehr Freiheit geben. Dann wäre der Begriff „Japanisierung“ im positiven Sinn als „mehr Marktwirtschaft“ gerechtfertigt. Aber bisher will Präsident Xi Jinping aus ideologischen Gründen diesen Weg nicht gehen.

Infografik der Börsen-Zeitung