Notiert inSchanghai

Mit Wittgenstein zum Sommer-Hit

Es ist Sommer und ganz China hört ein Lied von sprachphilosophischer Tragweite. Das reicht aus, um sämtliche Musikstreaming-Weltrekorde für Pop-Hits zu pulverisieren.

Mit Wittgenstein zum Sommer-Hit

Notiert in Schanghai

Wittgenstein als Sommer-Hit

Von Norbert Hellmann

Vor sechs Jahren eroberte ein Sommer-Hit aus Puerto Rico die Musikcharts. „Despacito“ wusste sich auf so unwiderstehliche Weise in Gehörgang und Gedächtnis einzuprägen, dass auch heute noch Partygastgeber oder Eventveranstalter gut daran tun, ihn als Launebringer und Tanzanschubhilfe zumindest in Reserve zu halten. 2017 erreichte „Despacito“ rund 6 Milliarden Abrufe auf Streamingdiensten, ein Weltrekord der Sonderklasse im Musikgeschäft. Den hat sich ein absurd eingängiger Ohrwurm, der jeden noch so tanzaversen Zuhörer mindestens zu ein paar verstohlenen rhythmischen Zuckungen verleitet, redlich verdient.

Umso erstaunlicher vielleicht, dass „Despacito“ in diesem Sommer rüde vom Sockel gestoßen wurde, weil ganz China nur noch ein Lied hört, das höchsten lyrischen Ansprüchen genügt. Ein dem Folk-Genre zuzuordnender und nach einigen Erfolgen ziemlich in Vergessenheit geratener chinesischer Liedermacher namens Dao Lang hat ein Comeback gelandet, das seinesgleichen sucht. Sein neues Album trägt den Titel „Es gibt nur wenige Folk-Songs“, und darauf befindet sich ein Lied namens „Luosha Haishi“, von dem Chinesen über alle Generationen hinweg nicht mehr ablassen können.

Anfang August, und damit zwei Wochen nach Erscheinen, kam der Titel bereits auf 8 Milliarden Streaming-Abrufe. Mittlerweile liegt man bei 34 Milliarden nachweislichen Anhörungen auf Musikplattformen. Für die Autoren von „Despacito“ heißt es wohl, sich ganz gemächlich damit abzufinden, dass der Rekord futsch ist, obwohl der neue Champion niemals das Zeug zum globalen Hit hat.

„Luosha Haishi“ ist auch für chinesische Geschmäcker kein Ohrwurm und bringt garantiert niemanden auf die Tanzfläche. Es geht um einen unter extrem trickreicher Verwendung doppeldeutiger chinesischer Zeichen raffiniert geschriebenen Liedtext, dem das ganze Land nun als detektivisches Sommerhobby versteckten Botschaften zu entlocken versucht. Dazu gehört eine Passage, die sich auf den berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein bezieht, dessen Arbeiten den präzisen Umgang mit Sprache als philosophisches Kernproblem thematisieren.

Schwieriger Stoff also. Dass sich dennoch ein Massenpublikum damit beschäftigen möchte, liegt daran, dass Dou Lang auf der simpelsten Ebene des Lieds mit einer Reihe von ziemlich selbstgefälligen heimischen Popstars abrechnet, die als Jury bei „Voice of China“ fungierten. Bei dem TV-Reality-Show-Format, das man in Deutschland als „The Voice“ oder „Deutschland sucht den Superstar“ kennt, treten Nachwuchstalente zum Wettbewerb an und werden von etablierten Stars gecoacht und bewertet.

Eine Sängerin namens Na Ying bekommt nun besonders ihr Fett weg. Sie hatte vor einigen Jahren in der Sendung bei der Frage nach Chinas einflussreichsten Liedermachern Dou Lang verhöhnt. Seine Songs seien auf einer Qualitätsstufe, die höchstens dazu ausreiche, Wanderarbeiter in einer Karaoke-Bar zum Grölen zu bringen, sagte sie damals und hatte die Lacher auf ihrer Seite. Nun, da Dou Langs Racheakt auf elegant verklausulierte Weise die Voice-of-China-Sippe der Lächerlichkeit preisgibt, hat sich das Blatt gewendet. Chinas Pop-Adel wird in Sozialen Medien mit Hohn und Spott überzogen und dazu aufgefordert, sich vor Dao Lang zu verneigen.

Der vielschichtige Liedtext hat aber mehr zu bieten. Abermillionen von Musik-Detektiven, die sich akribisch mit dem Stück beschäftigen und in Sozialen Medien fleißig Wittgensteins Lehren diskutieren, entdecken immer neue Facetten. Sie laufen nicht nur auf meisterliche Gesellschaftskritik hinaus, sondern scheinen auch sprachliche Propagandamechanismen der Partei durch den Kakao zu ziehen und das Thema Gehirnwäsche aufzubringen. Für Chinas Medienzensur kommt die Erkenntnis, dass Dao Langs Wundertüte auch politisch interpretiert werden kann, jedoch einen Tick zu spät. Jetzt, da der Liedinhalt bereits 34 Milliarden Mal ausgebüxt ist, lohnt es sich wohl kaum mehr, die Stalltür noch zu verrammeln.

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